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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,2.1906

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Heft 13 (1. Aprilheft 1906)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8629#0040

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^ Von den Ueberzeu-

gungen

Wir leben gemeinhin des schul-
kindlichen Meinens, als gäbe es
wahre und falsche Ansichten über
Gott, Welt und Schicksal, Wesen nnd
Bestimmung von Mann und Weib.
Grad' als wenn die Ueberzeugungen
in diesen Dingen aus einem erlern-
baren Wissen und nicht aus unsern
innersten Trieben hervorwüchsen, die
alles, was sie mit den Sinnen er-
fassen, in ihrem Sinne deuten und
uns so freilich von unserem eignen
ursprünglichen Glauben stets von
neuem überzeugen.

Denn der Mensch vergißt es im-
mer wieder, daß er selbst mit seiner
abgeklärtesten Gescheitheit noch ein
lebendiger, mitkämpfender Teil der
Welt bleibt, über die er sich nach
Münchhausens bewährter Methode
am Zopf emporgerissen zu haben
glaubt, wenn er sie „sachlich" ab-
schätzt.

So wird denn wohl die Geschichte
der Menschheit im wesentlichen, selbst
bis tief in alle Kritik und Wissen-
schaft hinein, ein Glaubenskampf blei-
ben müssen, solange das Begriffs-
wesen die Persönlichkeit nicht auf-
zulösen vermag. Und ist es nicht
am Ende auch lebenswerter so, als
wenn sie einen Wissensstreit dar-
stellte?

Dennoch — wieviele Menschen gibt
es, die ihre Ueberzeugungen stolz
und klar im Grunde auf das mit
ihrer Persönlichkeit ursprünglich Ge-
gebene, auf die Eigenart ihres We-
sens, auf ihr Selbst zurückführen?
Da laufen sie und rufen die Mathe-
matik zu Hilfe für ihre Gefühle!
Droben im Gehirnkämmerlein liegt
ihr Selbst vor der Beweisbar-
keit auf den Knien und erfleht sich
in der letzten Schamlosigkeit sciner

Schwäche von ihr den Berechtigungs-
schein — für seinen Gott!

Alle Menschen streben nach Wahr-
heit, und alle Menschen lügen. Aber
dieser Umstand stimmt die meisten
keineswegs bescheidener in bezug auf
ihr Erkenntnisvermögen. Das heißt
also doch wohl, die meisten sind auf
dem Wege der Wahrheit noch nicht
einmal bis zum Erschauen ihrer eig-
nen Lügenhaftigkeit vorgedrungen.

Und doch lebt auch für den elen-
desten Tropf noch als sicher leuchten-
der Leitstern die Wahrheit, von der
Goethe dem Sinne nach sagt: „und
wenn ich jetzt lüge, so lüge nicht
ich, sondern die Natur lügt aus
mir." Aber wer verehrt denn diese
beschränkt persönliche Wahrheit als
das Stückchen Gottheit, das seinem
Auge zu erblicken vergönnt ist, in-
dem er sich bewußt bleibt, daß die
Wahrheit in ihrer Fülle weder vom
einzelnen Menschen noch von der
gesamten Menschheit, daß das All
nur durchs All, Gott nur durch
Gott selbcr erfaßt werden könnte?

G

Wer seine Ueberzeugungen auf
ihre seelischen Gründe zurückzuführen
sucht und aus seinen Lebenseindrük-
ken wieder Ueberzeugungen schöpft,
der, sollte man meinen, denkt. Frei-
lich ist's ein Denken, das zu seinem
letzten Grunde die Persönlichkeit hat
und eine Allgemeingültigkeit daher
nie in dem Sinne beanspruchen kann,
wie das begriffliche Denken, das sich
auf Logik und Mathematik stützt.

Ein fruchtbares Lebenserkennen in
tieferem Sinne geht wohl erst von
solchen aus, in denen sich persönliches
und begriffliches Denken zu einer
guten Ehe vereinen. Denn das be-
griffliche Denken allein kann aus den

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Uunstwart XIX, 13
 
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