ROLF GROSSE
Kaiser und Reich aus der Sicht Frankreichs
in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
Als der Kaiser sich anschickt, die Weltherrschaft der Römer zu erneuern, sendet
er Boten in die ganze Welt, um bei den reges singuli die Wiederaufnahme ihrer frü-
heren Tributzahlungen zu erwirken. Nur beim König der Franken macht er eine
Ausnahme: Da sein Volk im Kriegsdienst stark sei, solle er mit Waffen dem Impe-
rium dienen und ihm hominium cum fidelitate leisten. Doch der französische König
weigert sich: Nicht nur bestreitet er, dem Reiche untertan zu sein, er behauptet so-
gar, das Reich gehöre ihm. Von seinen Vorfahren, den Galliern, habe er es geerbt,
und nun wolle man es ihm mit Gewalt rauben: Hoc enim seniores Galli possederunt /
atque suis posteris nobis reliquerunt. / Sed hoc invasoria vi nunc spoliamur. Der Kaiser
läßt sich diese dreisten Worte nicht gefallen; er zieht gegen den widerspenstigen
Franzosen zu Felde, besiegt ihn und nimmt ihn als Lehnsmann auf.
Es ist der Tegernseer Ludus de Antichristo, vielleicht um 1160 entstanden,
der die Szene schildert1. Sicher, es handelt sich bei diesem Schauspiel in erster
Linie um den Ausdruck staufischen Herrschaftsverständnisses; aber die Rede
des rex Francorum spiegelt auch das französische Selbstbewußtsein jener Zeit wi-
1 Ludus de Antichristo, ed. Gisela Vollmann-Profe, Bd. 2: Edition und Übersetzung (Litterae.
Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 82/11), Lauterburg 1981, Vers 49-100, S. 6-10 (Zitate:
Vers 55, 59, S. 6, Vers 71-73, S. 8); ed. Karl Langosch, Politische Dichtung um Kaiser Friedrich
Barbarossa, Bd. 1, Berlin 1943, I 1 Vers 1-52, S. 178-185 (Zitate: Vers 7, S. 178, Vers 11, 23-25,
S. 180). Zum Antichristspiel vgl. zusammenfassend: Gisela Vollmann-Profe, Tegernseer Lu-
dus de Anüchristo, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Burg-
hard Wachinger u. a., Bd. 9, Berlin/New York 21995, Sp. 673-679 und jetzt Hannes Möhring,
Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissa-
gung (Mittelalter-Forschungen 3), Stuttgart 2000, S. 176-184. Die erwähnte Szene wird u. a. be-
handelt von: Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Propheüe und Sage, München 1896,
S. 60 f.; Gaston Zeller, Les rois de France candidats ä TEmpire. Essai sur l'ideologie imperiale
en France, in: Revue historique 173, 1934, S. 278 f.; Walther Kienast, Deutschland und Frank-
reich in der Kaiserzeit (900-1270). Weltkaiser und Einzelkönige, 3 Teile (Monographien zur Ge-
schichte des Mittelalters 9), Stuttgart 1974-75, 2. Teil, S. 349-351; Horst Dieter Rauh, Das Bild
des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus (Beiträge zur Ge-
schichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 9), Münster “1979, S. 380-382;
Beate Schuster, Das Treffen von St. Jean de Losne im Widerstreit der Meinungen. Zur Freiheit
der Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43,1995,
S. 240; Odilo Engels, Friedrich Barbarossa im Urteil seiner Zeitgenossen, in: Ders., Stauferstu-
dien. Beiträge zur Geschichte der Staufer im 12. Jahrhundert. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag,
hg. von Erich Meuthen/Stefan Weinfurter, Sigmaringen 21996, S. 232 (Erstdruck des Aufsat-
zes in italienischer Sprache unter dem Titel: Federico Barbarossa nel giudizio di suoi contempo-
ranei, in: Annali dellTstituto storico italo-germanico 10, 1982, S. 45-81); Hermann Jakobs, Welt-
herrschaft oder Endkaiser? - Ziele staufischer Politik im ausgehenden 12. Jahrhundert, in: Die
Staufer im Süden. Sizilien und das Reich, hg. von Theo Kölzer, Sigmaringen 1996, S. 19 f.
Kaiser und Reich aus der Sicht Frankreichs
in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
Als der Kaiser sich anschickt, die Weltherrschaft der Römer zu erneuern, sendet
er Boten in die ganze Welt, um bei den reges singuli die Wiederaufnahme ihrer frü-
heren Tributzahlungen zu erwirken. Nur beim König der Franken macht er eine
Ausnahme: Da sein Volk im Kriegsdienst stark sei, solle er mit Waffen dem Impe-
rium dienen und ihm hominium cum fidelitate leisten. Doch der französische König
weigert sich: Nicht nur bestreitet er, dem Reiche untertan zu sein, er behauptet so-
gar, das Reich gehöre ihm. Von seinen Vorfahren, den Galliern, habe er es geerbt,
und nun wolle man es ihm mit Gewalt rauben: Hoc enim seniores Galli possederunt /
atque suis posteris nobis reliquerunt. / Sed hoc invasoria vi nunc spoliamur. Der Kaiser
läßt sich diese dreisten Worte nicht gefallen; er zieht gegen den widerspenstigen
Franzosen zu Felde, besiegt ihn und nimmt ihn als Lehnsmann auf.
Es ist der Tegernseer Ludus de Antichristo, vielleicht um 1160 entstanden,
der die Szene schildert1. Sicher, es handelt sich bei diesem Schauspiel in erster
Linie um den Ausdruck staufischen Herrschaftsverständnisses; aber die Rede
des rex Francorum spiegelt auch das französische Selbstbewußtsein jener Zeit wi-
1 Ludus de Antichristo, ed. Gisela Vollmann-Profe, Bd. 2: Edition und Übersetzung (Litterae.
Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 82/11), Lauterburg 1981, Vers 49-100, S. 6-10 (Zitate:
Vers 55, 59, S. 6, Vers 71-73, S. 8); ed. Karl Langosch, Politische Dichtung um Kaiser Friedrich
Barbarossa, Bd. 1, Berlin 1943, I 1 Vers 1-52, S. 178-185 (Zitate: Vers 7, S. 178, Vers 11, 23-25,
S. 180). Zum Antichristspiel vgl. zusammenfassend: Gisela Vollmann-Profe, Tegernseer Lu-
dus de Anüchristo, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Burg-
hard Wachinger u. a., Bd. 9, Berlin/New York 21995, Sp. 673-679 und jetzt Hannes Möhring,
Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissa-
gung (Mittelalter-Forschungen 3), Stuttgart 2000, S. 176-184. Die erwähnte Szene wird u. a. be-
handelt von: Franz Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Propheüe und Sage, München 1896,
S. 60 f.; Gaston Zeller, Les rois de France candidats ä TEmpire. Essai sur l'ideologie imperiale
en France, in: Revue historique 173, 1934, S. 278 f.; Walther Kienast, Deutschland und Frank-
reich in der Kaiserzeit (900-1270). Weltkaiser und Einzelkönige, 3 Teile (Monographien zur Ge-
schichte des Mittelalters 9), Stuttgart 1974-75, 2. Teil, S. 349-351; Horst Dieter Rauh, Das Bild
des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus (Beiträge zur Ge-
schichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 9), Münster “1979, S. 380-382;
Beate Schuster, Das Treffen von St. Jean de Losne im Widerstreit der Meinungen. Zur Freiheit
der Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43,1995,
S. 240; Odilo Engels, Friedrich Barbarossa im Urteil seiner Zeitgenossen, in: Ders., Stauferstu-
dien. Beiträge zur Geschichte der Staufer im 12. Jahrhundert. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag,
hg. von Erich Meuthen/Stefan Weinfurter, Sigmaringen 21996, S. 232 (Erstdruck des Aufsat-
zes in italienischer Sprache unter dem Titel: Federico Barbarossa nel giudizio di suoi contempo-
ranei, in: Annali dellTstituto storico italo-germanico 10, 1982, S. 45-81); Hermann Jakobs, Welt-
herrschaft oder Endkaiser? - Ziele staufischer Politik im ausgehenden 12. Jahrhundert, in: Die
Staufer im Süden. Sizilien und das Reich, hg. von Theo Kölzer, Sigmaringen 1996, S. 19 f.