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Vorwort

Hat sich das Sehen von Werken der bildenden
Kunst im Lauf der Zeit entscheidend verän-
dert? Obwohl von der Antwort auf diese Frage
der Anspruch kunstwissenschaftlicher Interpre-
tationen auf historische Angemessenheit ab-
hängt, ist sie bisher kaum empirisch untersucht
worden. Das vorliegende Buch versteht sich als
erster Schritt, diese Forschungslücke syste-
matisch zu schließen. Es widmet sich einer ver-
gleichenden Analyse von Beschreibungen und
Nachzeichnungen der Skulpturen Michelange-
los. Texte und Bilder sollen als Quellen für eine
Betrachtungsgeschichte der Statuen der Neuen
Sakristei herangezogen werden.

Zwei Argumente sprachen dafür, die Statuen
Michelangelos als Gegenstand der Untersuchung
zu wählen: Erstens bietet sich die Skulptur im
allgemeinen als Gegenstand einer Betrachtungs-
geschichte an, weil der Unterschied zwischen
dem plastischen Stein und der flächigen Zeich-
nung größer ist als derjenige, der Gemälde von
Nachzeichnungen trennt. Dieser Abstand zwingt
den Zeichner zu einer entschiedeneren Inter-
pretationsleistung, die der von Beschreibungen
besser gegenübergestellt werden kann.

Zweitens ist das CEuvre Michelangelos be-
reits zu seinen Lebzeiten allseits bekannt gewe-
sen und später bis in unsere Zeit immer wieder
rezipiert worden. Daher gibt es eine Fülle von
Beschreibungen und Nachzeichnungen der Mi-
chelangelo-Skulpturen, die eine vergleichende
Analyse durch alle Epochen ermöglicht. Nach
einer Katalogisierung aller zugänglichen Nach-
zeichnungen von Skulpturen Michelangelos
habe ich mich auf diejenigen konzentriert, für
die die größte Anzahl von Blättern nachgewie-
sen werden konnte (vgl. die tabellarische Auf-
stellung S. 2.54). Dies sind die Grabmäler der
Medici in der >Neuen Sakristei< von S. Lorenzo
in Florenz mit den symmetrisch sich gegen-

überstehenden Statuen der >Capitani<, Lorenzo,
Herzog von Urbino (Tai. ia), und Giuliano,
Herzog von Nemours (Tai. 21a). Im Mittel-
punkt der Untersuchung stehen die vier Tages-
zeiten, die auf den beiden Sarkophagen lagern:
Notte und Giorno (die Nacht und der Tag) zu
Füßen von Giuliano, Crepuscolo und Aurora
(die Abend- und die Morgendämmerung) zu
Füßen von Lorenzo sowie die sogenannte
Medicimadonna (Tai. 55a).

In der Einleitung möchte ich zunächst den For-
schungsstand zu Beschreibungen und Nach-
zeichnungen als Medien der Kunstrezeption
zusammenfassen und dann die methodische
Voraussetzung meiner Studie darlegen. Sie geht
davon aus, daß die mediale Übertragung (von
der Skulptur in die Sprache oder in die Zeich-
nung) ein Akt der Interpretation ist. Im ersten
Teil des Buches werden die Beschreibungen der
Mediciskulpturen, im zweiten die Nachzeich-
nungen analysiert. Ausgehend von einer Defini-
tion beider Rezeptionsmedien wird ihre
Geschichte skizziert und die jeweils spezifische
Form untersucht, in der sich die Interpretation
vollzieht. Im dritten Teil wird am Beispiel der
Notte die Interpretation, wie sie in Beschrei-
bungen realisiert wurde, jener von Nachzeich-
nungen vergleichend gegenübergestellt. Dieser
betrachtungsgeschichtliche Vergleich wird an-
schließend unter Berücksichtigung aller Skulp-
turen der Kapelle für drei spezifische Aspekte
der Rezeption der Grabmäler weitergeführt:
die zunehmende Thematisierung der formalen
Komposition, die Frage der >Ansichtigkeit< und
das kontroverse Verständnis des Unvollende-
ten.

Als Ergebnis stellt sich heraus: Beschreibun-
gen und Nachzeichnungen dokumentieren nur
in Hinblick auf einzelne Aspekte eine kohären-
 
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