Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1958

Missel

Pergament · 1, 229, 1 Bll. · 28,2 × 21,0 cm · Annecy (?) · 1368


Schlagwörter (GND)
Missale / Liturgie.
Entstehungsort
Annecy (?).
Entstehungszeit
1368.
Typus (Überlieferungsform)
Codex.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
1, 229, 1 Bll.
Format (Blattgröße)
28,2 × 21,0 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
(I-1)1a + 28 IV224 + (III-1)229* + (I-1)230*. Vorderspiegel Gegenbl. von 1a, Hinterspiegel Gegenbl. von 230*.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Römische (?) Foliierung (1–228). Bei ungez. Blättern folgt die Zählung dem Digitalisat (1a, 229*, 230*). ‒ Regelmäßig Lagenreklamanten in der entsprechenden Tintenfarbe (nach Rubrik bzw. Text unterschieden) und in (Zier-)Rahmung. Reste einer alphabetischen Lagenzählung in Kombination mit einer Lagenfoliierung ab der zweiten Lage (a /–a //// …); erste Lage nur mit einer Lagenfoliierung (/–////).
Zustand
Im Wesentlichen gut erhalten. Gelegentlich Tinte leicht berieben und verblasst; stellenweise leichte Bräunungen und Flecken. Pergament stellenweise durchscheinend. Wenige Löcher und Risse, jeweils ohne Textverlust, meist zeitgenössisch repariert und genäht. Bl. 21 mit einer größeren Fehlstelle am unteren Rand, ohne Textverlust.

Schriftraum
22,3 × 15,5 cm.
Spaltenanzahl
2 Spalten.
Zeilenanzahl
34 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Sorgfältige Textualis von der Hand des Davi[d] de Grufiez.
Buchgestaltung
Zweispaltige Anordnung des Textes. Rubriken und Lombarden kennzeichnen den Beginn der Messen (Lombarden hier zumeist vierzeilig) sowie die Handlungsanweisungen. Innerhalb der Messen sind Abschnitte durch rote Lombarden und Paragrafenzeichen gekennzeichnet; Unterstreichungen heben die Texte der Lesungen hervor. Die weitere Unterteilung erfolgt u. a. durch Versikel- und Responsum-Symbole bzw. durch Satzmajuskeln mit üblichen Rubrizierungen. Die Versikel und Responsa sind darüber hinaus durch einen kleineren Schriftgrad gegenüber dem Text abgesetzt. Die Anweisungen für den Rubrikator sind teilweise noch erhalten.

Nachträge und Benutzungsspuren
Wenige Rasuren und Ergänzungen, meist von der Schreiberhand. Vereinzelt Federproben.

Einband
Römischer Einband, mit leichten Beschädigungen, um 1780: helles Pergament über Pappe. Rücken mit Kleberresten eines älteren Signaturschildchens (?) und mit hs. Signatur: 1958. Vgl. Schunke, Einbände 2.2, S. 901.
Provenienz
Heidelberg.
Geschichte der Handschrift
Vorderspiegel mit Signaturschildchen. 1ar mit einer älteren römischen (?) Signatur: Pal. 1829. 1av mit der aktuellen Signatur. 1r mit der Capsa-Nummer: C. 175. und einer älteren gestrichenen Signatur: 1247, sowie einem Titel: Offitia [!] [der Rest des Titels wurde radiert; die jetzt gestrichene Signatur auf die Rasur geschrieben] (16., Anfang 17. Jh.?), der teilweise gelöscht wurde. 229*v mit der kopfständigen Signatur 975. Die Übersetzung des Dominikaner-Missales, von welchem der Palatinus ein sehr frühes überliefertes Beispiel abgibt, muss in den 1320er Jahren im Umfeld des französischen Königshofs lanciert worden sein. Ursprünglich war die Verwendung dieser volkssprachlichen Übersetzung wohl für den König selbst gedacht, sie verbreitete sich aber rasch innerhalb seiner Familie (Hasenohr, Entre Bible, S. 133–139). Die Abschrift des Palatinus wurde 1368 angefertigt, wie der Kolophon von Schreiberhand auf 228vb ausweist: L’an mil .ccc. lxviij. je, missel, fuiz escrit par la main Davj de Grufiez. Te deum laudamus. Geneviève Hasenohr verortet den Schreiber aufgrund seines Zunamens in der Gegend um Annecy (Hasenohr, Entre Bible, S. 131), was sich mit der sprachlichen Analyse von Jean-Baptiste Lebigue und Marie-Laure Savoye deckt, welche den Schreiber in einem Raum zwischen der Franche-Comté und dem Süden Burgunds vermuten (Lebigue / Savoye, Des origines). Führt man die Zirkulation der Hss. dieses Dominikaner-Missales innerhalb der französischen Aristokratie mit dem Entstehungsort Annecy zusammen, ist man geneigt, einen Grafen von Savoyen als Auftraggeber in Betracht zu ziehen, eher noch aber die Gräfin von Savoyen, Bonne de Bourbon (um 1341–1402), die aufs Engste mit dem französischen Königshaus verwandt war. Das würde die Annahme von Jean-Baptiste Lebigue und Marie-Laure Savoye ergänzen, nach der sich der Palatinus im Besitz der Margarethe von Savoyen (1420–1479) befunden habe, der Gattin des Kurfürsten Ludwig IV. (Lebigue / Savoye, Des origines). Damit wäre diese Hs. über ihren Erben, Kurfürst Philipp, in die Schlossbibliothek und schließlich in die Bibliotheca Palatina gelangt (Zimmermann, Handschriften, S. 103–105). Für diese Provenienz aus dem Hause Savoyen könnte auch ein Wappen sprechen, das leider nicht mit Farbe ausgemalt, auf 192v in der Rahmung des Lagenreklamanten verewigt wurde: Es hat den Anschein eines Zwillingsfadenkreuzes mit einer Kugel auf dem Kreuzmittelpunkt, es könnte sich aber auch um ein nicht perfekt ausgeführtes Kreuz handeln, wie es sich im Wappen der Grafen und späteren Herzöge von Savoyen findet. Trotz aller schlagkräftigen Indizien darf nicht vergessen werden, dass Annecy, wahrscheinlich die Heimat des Schreibers, in der Zeit des Entstehungsprozesses noch zur Grafschaft Genf gehörte. Das führt uns zu einer weiteren Wappenskizze, die sich auf 11v unten links befindet. Nur fragmentarisch ausgeführt ist ein gespaltener Schild (mit Schildbord?); vorne geschacht zu sechs Plätzen, hinten ledig (?). Das wahrscheinlich als Ehewappen ausgeführte Zeichen mit den sechs Plätzen vorne lässt auf die Gattin eines Grafen von Genf schließen. Leider ist der hintere Teil des Schilds, der Hinweise auf die Herkunftsfamilie der Gräfin hätte geben können, offenbar leer geblieben. Allerdings war zur Zeit der Entstehung des Palatinus Mechthild von Boulogne bzw. von Auvergne (†1399) Gräfin von Genf, die als letzte eingeheiratete Gräfin von Genf einen solchen Schild mit der Kombination aus dem Wappen der Grafen von Genf und der Herkunftsfamilie geführt haben dürfte. Da ihre Söhne vor ihr starben und damit die Grafen von Genf in männlicher Linie ausstarben, setzte sie ihre Töchter Blanche (†1416) und Katharina (†1407) als Universalerbinnen ein, wobei Katharinas Tochter Mechthild von Savoyen-Achaia (um 1390–1438) ebenfalls als Erbin ihrer kinderlos verstorbenen Tante Blanche fungierte (Duparc, Comté de Genève, S. 328–347), sodass die Fäden bei Mechthild zusammenliefen, die Kurfürst Ludwig III. ehelichte, wodurch schließlich ihre Bücher in die Schlossbibliothek eingegangen sein dürften. Von dort gelangte der Palatinus wohl unter Kurfürst Ottheinrich in die Bibliothek der Heiliggeistkirche, zumindest findet sich in den Katalogen zu den transferierten Büchern eine Officia de sanctis, gallice, geschrieben, perment (Pal. lat. 1929, 127r, vgl. auch Christ, Handschriften, S. 15). Ein vergleichbarer Eintrag findet sich im nach 1581 angelegten Katalog der Bibliotheca Palatina, allerdings mit dem Zusatz folio, bretter, rot leder, bucklen (Pal. lat. 1931, 88v, vgl. auch Christ, Handschriften, S. 17).

Faksimile
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_1958
Literatur
ARCA, Biblioteca Apostolica Vaticana – Pal. lat. 1958; Berschin, Palatina, S. 134; Christ, Handschriften, S. 44f.; Colophons 1, S. 413; DEAF, MisselPal; L. M. J. Delaissé, A Liturgical Problem at the End of the Middle Ages. The ‚Missale gallicum‘, in: Litterae textuales. Miniatures, Scripts, Collections. Essays presented to G. I. Lieftinck, hrsg. von J. P. Gumbert / M. J. M. De Haan, Amsterdam 1976, S. 16–27, hier S. 19f., 25, 27; Margaret E. Hadley, Camouflaging and Echoing the Latin Mass in an Illuminated French-Language Missal, in: Postcolonising the Medieval Image, hrsg. von Eva Frojmovic / Catherine E. Karkov, London / New York 2017, S. 62–87, hier S. 84 A. 32; Geneviève Hasenohr, Entre Bible et liturgie. Les traductions des épîtres et évangiles des dimanches (XIIIe–XIVe siècle), in: Ecrire la Bible en français au Moyen Âge et à la Renaissance, hrsg. von Véronique Ferrer / Jean-René Valette, Genf 2017, S. 121–139, hier S. 131–139; Lebigue / Savoye, Des origines; Jean-Baptiste Lebigue, Notice, in: Jonas-IRHT / CNRS, http://jonas.irht.cnrs.fr/manuscrit/65645; Montuschi, Dai duchi, S. 255, S. 257; OVL, Pal.lat.1958; Pierre Rézau, Répertoire d’incipit des prières françaises à la fin du moyen âge. Addenda et corrigenda aux répertoires de Sonet et Sinclair, nouveaux incipit, Genf 1986 (Publications romanes et françaises 174), S. 226; Schunke, Einbände 2.2, S. 901; Clive R. Sneddon, The Bible in French, in: The New Cambridge History of the Bible, Bd. 2, From 600 to 1450, hrsg. von Richard Marsden / E. Ann Matter, Cambridge 2012, S. 251–267, hier S. 264.
Verzeichnis der im Katalogisierungsprojekt abgekürzt zitierten Literatur

1) 1ra–228vb Digitalisat

Beteiligte Personen
Jean de Vignay (GND-Nr.: 100947921).
Titel
Missel.
Angaben zum Text
Übersetzung eines Dominikaner-Missale, in Teilen, vielleicht aber auch in Gänze angefertigt von Jean de Vignay (um 1283–nach 1340) in den 1320er Jahren im Umfeld des französischen Königs, wahrscheinlich unter dessen Patronage. Geneviève Hasenohr, die den Text kritisch analysierte, arbeitete einen Entstehungszeitraum von den 1320er Jahren bis in die 1340er Jahre heraus (vgl. Hasenohr, Entre Bible, S. 130–137). Es fehlt unter den Dominikaner-Heiligen in der Litanei allerdings der hl. Thomas, dessen Kanonisation 1323 erfolgte (vgl. Christ, Handschriften, S. 44f.), zudem soll Jean de Vignay 1326 das Missale nach der in Paris üblichen Liturgie (vgl. ARLIMA, https://arlima.net/no/15) für die spätere Königin Johanna von Burgund (um 1293–1348/1349) übersetzt haben (vgl. Michèle Baudinet-Benoit, Les „Epîtres et Evangiles de tout l’an selon l’usage de Paris“ dans la traduction de Jean de Vignay, Diss. Nancy 1994, S. 15f.), sodass eine Eingrenzung der Übersetzungstätigkeit in die 1320er Jahre am wahrscheinlichsten erscheint. Der Palatinus wurde 1368 von einem Davj de Grufiez kopiert. (1ra–2vb) Register; (3ra–106ra) De tempore: Advent bis Karsamstag. ›Le premier dimenche de l’avent nostre seigneur, l’office de la messe. Ad te levavj animam meam, meam, meam‹. A toi sire j’ai levé m’ame, mon dieu … ; (106ra–109ra) Praefationes, Mess-Canon; (109ra–161ra) De tempore: Ostern bis 25. Sonntag nach Trinitatis (wobei der Fronleichnamstag fehlt); (161rb–162va) In dedicatione ecclesiae; (162va–207vb) De sanctis: von der Vigil des hl. Andreas bis hl. Katharina; (207vb–214vb) Epistel und Evangelien des Commune sanctorum; (214vb–219va) verschiedene Messen (de SS. trinitate, de spiritu sancto, de s. cruce, Marienmessen und pour quelconques necessité et besoing office); (219va–222rb) Gebete; (222rb–226ra) Messen und Gebete für die Verstorbenen; (226ra–227ra) Benedictio aquae; (227ra–228vb) Missa de SS. eucharistiae sacramento, S. Ludovici confessoris (228ra–228vb). – 1ar–v bis auf Signaturen leer. – 229*r bis auf Zeilengrüst und Federproben leer. – 229*v bis auf kopfständige Signatur (975) leer. – 230*r–v leer.
Incipit
1ra Cest latable [!] pour trouver les offices chascum [!] jour par ordre
Explicit
228vb … et ses prieres weilles delivrer de toute aversité. Per Dominum nostrum [von anderer Hand ergänzt:] Jhesum Christum filium et cetera. [Es folgt der Kolophon von Schreiberhand:] L’an mil .ccc. lxviij. je, missel, fuiz escrit par la main Davj de Grufiez. Te deum laudamus.
Edition
Edition des in weiten Teilen mit dem Palatinus übereinstimmenden Missale nach der in Paris üblichen Liturgie: Baudinet-Benoit, Les „Epîtres“, S. 47–484.


Bearbeitet von
Dr. Uli Steiger, Dr. Thorsten Huthwelker, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2024.


Zitierempfehlung:


Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1958. Beschreibung von: Dr. Uli Steiger, Dr. Thorsten Huthwelker (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2024.


Katalogisierungsrichtlinien
Die Katalogisierungsrichtlinien finden Sie hier.

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Erschließung von 876 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen lateinischen Handschriften der Heidelberger Bibliotheca Palatina in der Vatikanischen Bibliothek in Rom.