Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 622

Zusammengesetzte juristische Handschrift

Pergament · 1, 263, 1 Bll. · 38,5–39,5 × 24,5–25 cm · Südfrankreich / Nordfrankreich / Frankreich · Ende 13. Jh. / 3. Viertel 12. Jh.


Schlagwörter (GND)
Kanonisches Recht / Dekretalen / Decretum.
Typus (Überlieferungsform)
Codex.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
1, 263, 1 Bll.
Format (Blattgröße)
38,5–39,5 × 24,5–25 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
Hs. aus 3 Faszikeln zusammengesetzt (I. Bl. I–XVI; II. Bl. XVII–XXIV; III. Bl. 1–263). (I-1)1a + … + (I-1)264*. 1a bildet mit dem Vorderspiegel ein Doppelbl., 264* bildet mit dem Hinterspiegel ein Doppelbl.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Beginnt mit Foliierung in lateinischen Ziffern (I–XXIV), gefolgt von Foliierung in arabischen Ziffern (1–262), wobei letztere wohl im 17. Jh. in Rom vorgenommen wurde. Bei Zählung mit lateinischen Ziffern wurde XII zweimal nacheinander vergeben und dabei XIII ausgelassen. Vor- und Nachsatzbl. ungez., weshalb hier Zählung der Digitialisate übernommen wird (1a, 264*). Bl. I falsch herum eingebunden.


Einband
Pappe mit weißem Pergament überzogen, gefertigt in Rom um 1780 (Schunke, Einbände 2.2, S. 846). Rücken beschädigt, an Kopf und Fuß ausgerissen, Rückentitel: DECRETUM.
Provenienz
Florenz / Augsburg / Heidelberg.
Geschichte der Handschrift
Auf Vorderspiegel blaues Schildchen mit aktueller Signatur aufgeklebt. Auf 1a alte Signaturen 671 und 710 [beide durchgestrichen] neben der aktuellen, weitere Altsignatur 743 [durchgestrichen] auf 1v sowie N. 613 auf IIr. Die einzelnen Faszikel der Handschrift entstanden im 12. und 13. Jh. in Frankreich. Nähere Auskunft über einen früheren Besitzer geben Iv und XXIVv: dominus Arnaldus de Ruheria monachus textus Decreti. Ein Arnaldus de Ruheria ließ sich nicht ermitteln, aber ein Berengarius de Ruheria oder Laruhere ist in den Rechnungen der Agenten des Thibaud de Castillon (†1356), Bischof von Bazas, Sainte und Lissabon, im Jahr 1357 als Händler in Montpellier nachweisbar (siehe https://amesfoundation.law.harvard.edu/DossierFinal4.pdf, S. 177f.). Dass sich deshalb die Hs. im Besitz des Bischofs befunden haben könnte, wie Giovanna Murano mutmaßt (Murano, The List, S. 148f.), ist als reine Spekulation einzuschätzen. Der Begriff Ruheria bezieht sich auf ein Toponym, wofür in erster Linie Ruère in Betracht kommt, ein Ortsname, der fast ausschließlich im westlichen Teil der heutigen Region Bourgogne-Franche-Comté vorkommt, d. h. der Landschaft Burgund. Hier könnte ein Mönch namens Arnaldus die ersten beiden Faszikel besessen haben, schließlich finden wir seinen Besitzeintrag zu Beginn und zum Ende des zweiten Faszikels. Vielleicht hatte er aber auch schon alle drei Faszikel vereint, worauf in diesem Fall das textus Decreti zu beziehen wäre. Ohnehin deutet die thematische Zusammenstellung der Texte darauf hin, dass die Vereinigung der einzelnen Faszikel zu einem Kompendium von einem Gelehrten vorgenommen wurde. Zudem verweist die Capsa-Nummer C. 47 auf IIr darauf, dass die Hs. offenbar schon in dieser Bindung in Heidelberg vor dem Abtransport nach Rom vorlag. Ob die Hs. in der Zwischenzeit dem 1453 verstorbenen portugiesischen Juristen Velasco gehörte, wie Giuseppe B. Cagni angenommen hat, muss offen bleiben. Zumindest ist das Interesse des späteren Besitzers, des Florentiner Humanisten und Diplomaten Giannozzo Manetti (1396–1459), an schönen Rechtshss. mit Glosse aus dem Besitz Velascos anhand eines Briefs belegt, weshalb vorliegende Hs., wie auch Pal. lat. 739, über Velasco in die Bibliothek Manettis gelangt sein könnte. Dass Manetti Vorbesitzer war, zeigt der Vermerk auf IIr: Decret. 13. Manet. Nach 1529 wurde Manettis Handschriftensammlung von Ulrich Fugger (1526–1584) erworben, der mit seiner Bibliothek nach Heidelberg migrierte. Nach dessen Tod ging diese an den Pfälzer Kurfürsten über und schließlich in die Bibliotheca Palatina ein (s. Einleitung).

Faksimile
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_622
Literatur
BioBib Jurists, Gratianus (a242); Giuseppe B. Cagni, Vespasiano da Bisticci e il suo epistolario, Rom 1969 (Temi et testi 15), S. 134 A. 1; Dolezalek / Weigand, Geheimnis, S. 145, 182–185, 190, 191; Hanselmann, Bücherschenkung, S. 125; Kuttner, Repertorium, S. 4, 6, 11f., 56f., 273, 276; Peter Landau, Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht. Typen und Funktionen der Dekretalen des 12. Jahrhunderts, in: ZRG KA 86 (2000), S. 86–131, hier S. 121 A. 140; Lehmann, Fuggerbibliotheken 2, S. 479f.; Titus Lenherr, Arbeiten mit Gratians Dekret, in: AfkKR 151 (1982), S. 140–166, hier S. 165f.; Manuscripta juridica, Pal. lat. 622; McManus, An Interpolation, S. 55 A. 4; Murano, The List, S. 147–175; OVL, Pal.lat.622; Pace, Storia, S. 235 A. 93; Scano, I manoscritti, S. 23f., Schadt, Darstellungen, S. 153, 164; Schmugge, Dekretale, S. 59 A. 75, 66 A. 119; Schunke, Einbände 2.2, S. 846; Soetermeer, Utrumque ius, S. 303 A. 37; Stevenson, Latini, S. 224; Rudolf Weigand, Frühe Glossen zu D. 11 pr. c. 6 des Dekrets Gratians, in: ZRG KA 95 (1978), S. 73–94, hier S. 75–91; Rudolf Weigand, Zur Handschriftenliste des Glossenapparats ‚Ordinaturus Magister‘, in: BMCL 8 (1978), S. 41–47, hier S. 42; Rudolf Weigand, Romanisierungstendenzen im frühen kanonischen Recht, in: ZRG KA 100 (1983), S. 200–249, hier S. 201, 227–228; Weigand, Glossen 4, S. 964–966; Hartmut Zapp, Paleae-Listen des 14. und 15. Jahrhunderts, in: ZRG KA 90 (1973), S. 83–111, hier S. 84, 88 A. 23, 91–108.
Verzeichnis der im Katalogisierungsprojekt abgekürzt zitierten Literatur

Faszikel I (Bl. I–XVI)

Sachtitel / Inhalt
Bartholomäus von Brescia, Historiae super libro decretorum; Paleae decretorum.
Entstehungsort
Südfrankreich.
Entstehungszeit
Ende 13. Jh.
Typus (Überlieferungsform)
Faszikel.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
16 Bll.
Format (Blattgröße)
38,5–39,5 × 24,5–25 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
(VI+4)XVI.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Bl. I wohl vorgebunden. Foliierung der Bll. mit lateinischen Ziffern. Reklamant auf falsch gezähltem XIIv (müsste eigentlich XIIIv heißen) auf Fußsteg rechts.
Zustand
I mit Wasserschaden, II mit zahlreichen Flecken, im ersten Teil des Faszikels am Seitensteg Wasserschaden, ansonsten kleinere Gebrauchsspuren.

Schriftraum
27,5–28,2 × 18,3–18,5 cm.
Spaltenanzahl
2 Spalten.
Zeilenanzahl
64 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Beide Texte wurden von einer Hand geschrieben. Die Schrift zeigt Elemente der südfranzösischen Textura.
Buchgestaltung
Zeilengerüst des zweispaltigen Texts mit Metallstift vorgezogen. Der eigentliche Text auf IIr beginnt mit reich verzierter Fleuronnéinitiale, zur Untergliederung des Texts Lombarden alternierend in Blau und Rot mit Konturbegleitstrichen und Fadenausläufern in Gegenfarbe.

Nachträge und Benutzungsspuren
Auf Ir–IXv zahlreiche Verweise.

Provenienz
Florenz / Augsburg / Heidelberg.

1) IIra–IXvb Digitalisat

Verfasser
Bartholomäus von Brescia (GND-Nr.: 100937365).
Titel
Historiae super libro decretorum.
Angaben zum Text
Ir–Iv Kleintexte zur Kanonistik, Federproben, 13.–14. Jh.
Rubrik
IIra ›Incipiunt hystorie decretorum‹.
Incipit
IIra ›Licetmerita scientie non respondeant nec opus aliquod sufficit adimplere
Explicit
IXvb … Qui mensis apud Hebreos Nisan appellatur apud nos vero Aprilis.Expliciunt ystorie decretorum‹.

2) IXvb–XVIrb Digitalisat

Titel
Paleae decretorum.
Angaben zum Text
Katalog von ‚Paleae‘, d. h. jüngeren Ergänzungen zum Decretum Gratiani. – XVIv leer.
Rubrik
IXvb ›Incipiunt Palee decretorum‹.
Incipit
IXvb ›Distinctionev. ante capitulum quod incipit Si mulier inserenda est sequens palea
Explicit
XVIrb … Si qua mulier ad secundas transierit nuptias et filios aut filias ad secundum maritum genuerit non debere eos seu eas nepotibus prioris mariti coniungi sacra Romana prorsus inhibuit. Expliciunt Palee decretorum.
Edition
Transkribiert sind die Incipits und Explicits der Paleae mit entsprechender Zuordnung in: Murano, The List, S. 150–175.

Faszikel II (Bl. XVII–XXIV)

Sachtitel / Inhalt
Einführung zum Decretum Gratiani.
Entstehungsort
Nordfrankreich.
Entstehungszeit
3. Viertel 12. Jh.
Typus (Überlieferungsform)
Faszikel.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
8 Bll.
Format (Blattgröße)
38,5–39,5 × 24,5–25 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
IVXXIV.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Fortgeführt von Faszikel I. Foliierung der Bll. mit lateinischen Ziffern.
Zustand
Leichte Benutzungsspuren, zu Beginn stockfleckig.

Schriftraum
27,5–28,2 × 18,3–18,5 cm.
Spaltenanzahl
2 Spalten.
Zeilenanzahl
52 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Die Schrift zeigt Elemente der Textura, wie sie in Nordfrankreich gepflegt wurde.
Buchgestaltung
Zeilengerüst mit Metallstift vorgezogen. Der zweispaltige Text wird von einer Bildeinschlussinitiale eingeläutet. Die Anfänge sind rubriziert, zudem mit Versalien in Rot, Grün, Blau und Braun verziert.

Nachträge und Benutzungsspuren
Nach dem Haupttext inseriert sind eine zeitgenössische Distinctio, d.h. eine grafische Darstellung der Didaxe dienend, sowie ein ‚Lusus satyricus de octo filiabus diaboli‘ von einer Hand des 15. Jhs.

Provenienz
Florenz / Augsburg / Heidelberg.

3) XVIIra–XXIVrb Digitalisat

Titel
In prima parte agitur.
Angaben zum Text
Nach den Anfangsworten benannte Einführung zum Decretum Gratiani. – XXIVv leer.
Rubrik
XVIIra ›Prima pars‹.
Incipit
XVIIra ›In primaparte agitur de iusticia naturali et positiua tam constituta quam inconstituta, que cui preponatur
Explicit
XXIVrb … In xxxvi. causa De raptoribus agitur qui sint raptores et que penitencia sit eis imponenda et an rapte post rapinam purgatam raptoribus suis licite copulari valeant.
Edition
Die Einleitung des Texts ist ediert bei Carlos Larrainzar, Notas sobre las introducciones In prima parte agitur y Hoc opus inscribitur, in: Medieval Church Law and the Origins of the Western Legal Tradition. A Tribute to Kenneth Pennington, hrsg. von Wolfgang P. Müller / Mary E. Sommar, Washington, D.C. 2006, S. 134–153, hier S. 151–153.

Faszikel III (Bl. 1–263)

Sachtitel / Inhalt
Gratian, Decretum cum glossa.
Entstehungsort
Frankreich.
Entstehungszeit
3. Viertel 12. Jh.
Typus (Überlieferungsform)
Faszikel.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
263 Bll.
Format (Blattgröße)
38,5–39,5 × 24,5–25 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
32 IV256 + (III+1)263.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Römische Foliierung des 17. Jhs. (1–262). Kustoden, mittig auf dem Fußsteg, meist durch Beschnitt verloren gegangen.
Zustand
Einige Gebrauchsspuren. Zahlreiche überschriebene Rasuren. 115r eingeschnitten.

Schriftraum
25–25,7 × 13–13,5 cm.
Spaltenanzahl
2 Spalten.
Zeilenanzahl
52 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Die Schrift, von einer Hand geschrieben, ist ein typisches Beispiel einer frühen nordfranzösischen Textura.
Buchgestaltung
Zeilengerüst mit Metallstift vorgezogen. Der Text ist zweispaltig angelegt, begleitet von kurzen Marginal- und Interlinearglossen. Alle Capitulumsüberschriften sind durchgängig rubriziert, jeder Anfang eines Capitulums mit einer Versalie alternierend in Blau und Rot kenntlich gemacht. Im ersten und im dritten Teil rubrizierte Paragrafenzeichen auf Bund- und Seitensteg, den Anfang einer Distinctio anzeigend, mit Nennung derselben. Im ersten Teil rubrizierte Kolumnentitel, nicht durchgängig, mit Angaben der jeweiligen Distinctio. Der Text beginnt mit einer Ornamentinitiale. Synthese Gratians mit Paragrafenzeichen hervorgehoben. Im zweiten Teil steht in der Kopftitelzeile auf der Versoseite ein rotes C als Abkürzung für ‚Causa‘, auf der Rectoseite ist der Causa an gleicher Stelle die jeweilige lateinische Ziffer in Rot zugeordnet. Der Text beginnt mit einer Bildeinschlussinitiale. Der Anfang jeder Causa ist mit einer reich verzierten Initiale gekennzeichnet. Rubrizierte Paragrafenzeichen auf Bund- und Seitensteg, den Anfang einer Quaestio anzeigend, mit Nennung derselben. Im dritten Teil ist als Seitentitel auf der Versoseite ein DE, auf der Rectoseite ein CON als Abkürzung für ‚De consecratione‘ angebracht. Der Text beginnt mit einer Ornamentinitiale.
Buchschmuck
Auf 240v Arbor consanguinitatis als Illustration ausgeführt. Dabei hält ein vollbärtiger, mit einem knielangen Gewand mit goldener Borte, goldenen Oberarmreifen und verziertem Schuhwerk angetaner Mann das Stemma zu den Graden der Blutsverwandtschaft, das auf einer Säule mit Kapitell ruht. S. auch die Bildbeschreibung in heidICON.

Nachträge und Benutzungsspuren
Interlinear- und Marginalglossen sowie Korrekturen von mehreren Händen. An den Rändern etwas unbeholfene, senkrechte Schrift aus der ersten Hälfte des 13. Jhs. ausradiert. Zahlreiche Verweiszeichen und Distinctiones als grafische Darstellungen der Didaxe dienend.

Provenienz
Florenz / Augsburg / Heidelberg.

4) 1ra–263vb Digitalisat

Verfasser
Gratian (GND-Nr.: 118541625).
Titel
Decretum cum glossa.
Angaben zum Text
Text mit frühen Interlinear- und Marginalglossen (Kuttner, Repertorium, S. 56f.; Wiegand, Glossen 4, S. 964–966): (1ra–59ra) Teil I; (59ra–241vb) Teil II; (242ra–263ra) Teil III. – 263r–263v Kleintexte, u. a. Palea ‚Duobus modis dicitur fides‘.
Rubrik
1ra ›Concordia discordantium canonum ac primum de iure nature et constitutionis‹.
Incipit
1ra ›Hvmanvm genvs dvobvs regitvr, natvrali videlicet ivre et moribvs …‹.
Explicit
263vb … Cui simile et de se ipso saluator ait: Sicut audio, iudico, et alibi: Non potest filius a se facere quicquam, nisi quod uiderit patrem facientem.Si quis alicui mulieri consensus fidem fecerit non licet illi aliam ducere. Augustinus de fide pactionis et consensus‹.
Edition
Corpus iuris canonici 1, Sp. 1–1424. Zu den Interlinear- und Marginalglossen existiert keine Edition.


Bearbeitet von
Dr. Thorsten Huthwelker, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2024.


Zitierempfehlung:


Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 622. Beschreibung von: Dr. Thorsten Huthwelker (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2024.


Katalogisierungsrichtlinien
Die Katalogisierungsrichtlinien finden Sie hier.

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Erschließung von 876 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen lateinischen Handschriften der Heidelberger Bibliotheca Palatina in der Vatikanischen Bibliothek in Rom.