Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 637

Zusammengesetzte juristische Handschrift

Pergament · 1, 109, 1 Bll. · 39,6 × 25,5 cm · Neapel (?) / Ferrara (?) · um 1305-1330 / Ende 14. Jh.


Schlagwörter (GND)
Kanonisches Recht / Dekretalensammlung / Dekretalen / Liber sextus / Annalen / Urkunde / Papsturkunde.
Typus (Überlieferungsform)
Codex.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
1, 109, 1 Bll.
Format (Blattgröße)
39,6 × 25,5 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
Hs. aus 2 Faszikeln zusammengesetzt (I. Bll. 1–107; II. Bll. 108–109). (I-1)1a + … + (I-1)110*. Vorderspiegel Gegenbl. von 1a, Hinterspiegel Gegenbl. von 110*.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Vor- und Nachsatzbl. ungez., weshalb hier Zählung der Digitalisate übernommen wird (1a, 110*). Reklamanten durchgängig auf der letzten Versoseite der Lage auf dem Fußsteg mittig, auf 99v hingegen rechts. Reklamant fehlt auf 107v.


Einband
Römischer Einband, Pappe mit weißem Pergament überzogen, in Rom um 1780 gefertigt (Schunke, Einbände 2.2, S. 846). Gelb-kupferfarbenes Kapital. Kopf des Buchrückens eingerissen, Rückentitel: DECRETALIUM Liber VI. cum Iohannes Andreae annotationibus. Reste eines blauen aufgeklebten Schildchens mit der aktuellen Signatur.
Provenienz
Padua / Augsburg / Heidelberg.
Geschichte der Handschrift
Blaues Schildchen mit aktueller Signatur auf Vorderspiegel. Altsignaturen auf 1ar 685 und 723, auf 1r 529, 16., duc.2332., 983 und Capsa-Nummer C. 92, sowie Fugger-Signatur p 60 F n°48. Dem paläografischen Befund entsprechend dürfte der erste Faszikel im angevinischen Königreich Sizilien entstanden sein. Darüber hinaus macht die Grußadresse der einführenden Bulle zum Liber sextus, gerichtet an die Universität Neapel, die Entstehung an genannter Hochschule wahrscheinlich, zumal der Text im Peciensystem hergestellt wurde (s. 4r: finit i. pecia), was eine Eigenheit universitärer Buchproduktion darstellte. Darüber hinaus versammeln die zeitnah an den Liber sextus angefügten Texte Inhalte, die allesamt das Königreich Sizilien betreffen. In Neapel dürfte der Faszikel noch eine Zeit geblieben sein, wie zumindest eine Hand nahelegt, die den Text des Liber sextus mit Anmerkungen versah. Zu Ende des 14. Jhs., spätestens im 15. Jh., dürfte der Codex in Oberitalien gewesen sein. Schließlich steht der zweite Faszikel mit Ferrara in Verbindung. Dass dieser abgeschrieben wurde ist aufgrund der Schrift eher unwahrscheinlich, wahrscheinlicher ist doch, dass dieser direkt aus einem Amtsbuch entnommen wurde. Ein weiterer Verweis auf Oberitalien ist der Zollvermerk auf 3rd: 1451 die xvi Octobris Johannes subscripsi, wie er beispielsweise in vergleichbarer Form auch in Pal. lat. 625, 5ra zu finden ist. In Padua war es Studenten erlaubt, Bücher zollfrei einzuführen, wobei diese mit einem solchen Eintrag versehen wurden (Gargan, L’enigmatico ‚conduxit‘, S. 11f., ohne Nennung vorliegender Hs.). Im 16. Jh. befand sich die Hs. endlich im Besitz von Ulrich Fugger (1526–1584). Sie führte die Signatur 198. seors. (Lehmann, Fuggerbibliotheken 2, S. 480, hier verwechselt mit Pal. lat. 636), wie auf 1ra zu sehen ist. Er dürfte die Hs. aus oberitalienischer Provenienz erworben haben. Fugger migrierte 1564 nach Heidelberg (s. Einleitung). Gemäß seinem letzten Willen ging sie schließlich nach seinem Tod in das Eigentum des Kurfürsten über.

Faksimile
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_637
Literatur
Gargan, L’enigmatico ‚conduxit‘, S. 11f.; Lehmann, Fuggerbibliotheken 2, S. 480; Murano, Opere, S. 374; OVL, Pal.lat.637; Schunke, Einbände 2.2, S. 846; Stevenson, Latini, S. 227f.; Tarrant, Manuscripts, S. 142.
Verzeichnis der im Katalogisierungsprojekt abgekürzt zitierten Literatur

Faszikel I (Bl. 1–107)

Sachtitel / Inhalt
Liber sextus cum Glossa ordinaria.
Entstehungsort
Neapel (?).
Entstehungszeit
um 1305–1330.
Typus (Überlieferungsform)
Faszikel.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
107 Bll.
Format (Blattgröße)
39,6 × 25,5 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
(VI-1)11 + 12 IV107.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
s. zum Codex.
Zustand
An den Rändern abgegriffen, Schrift zuweilen verblasst, zahlreiche Flecken, Risse und Knicke, Bll. nachgedunkelt. Großflächige Rasur auf 1r, Wasserschaden auf 103 und 104.

Schriftraum
34,4 × 23,9 cm.
Spaltenanzahl
4 Spalten (1r–1v: 1 Spalte; 2r–2v, 96r–107v: 2 Spalten; 1r: 3 Spalten).
Zeilenanzahl
Legaltext: 36 Zeilen; Klammerglosse: bis zu 112 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Die Hand, welche den Legaltext kopierte, verwendete eine Textura, die Elemente der Rotunda mit Elementen der nördlich der Alpen gebräuchlichen Form verband, wie es für die Schriften im angevinischen Teil des Königreichs Sizilien typisch war. Der Schreiber der Klammerglosse scheint wesentlich stärker durch nordfranzösische Buchschriften, insbesondere die Littera Parisiensis, geprägt zu sein. Sein Fortsetzer ab 68r hingegen pflegte einen wesentlich runderen Duktus. Die Annalen des Königreichs Sizilien stammen von einer weiteren Hand, die sich einer älteren gotischen Buchkursive bediente. Die Schreiber der nachfolgenden Texte waren hingegen wieder der Textura verpflichtet und bedienten sich ebenfalls der oben beschriebenen Mischform.
Buchgestaltung
Zeilengerüst mit Metallstift vorgezogen. Mittig und zweispaltig angelegter Legaltext des Liber sextus von Klammerglosse umflossen. Im Legaltext des Liber sextus Buchanfänge durch Lombarde mit Knospenfleuronné hervorgehoben, Tituli rubriziert, jedes Capitulum beginnt mit Lombarde, alternierend in Blau und Rot, wenig verziert mit Konturbegleitstrichen und Fadenausläufern in Gegenfarbe. Im Satz zuvor zur grafischen Unterteilung Anfangsbuchstabe jener Person mit Satzmajuskel in Gegenfarbe hervorgehoben, welche die Dekretale formulierte, des Weiteren Paragrafenzeichen in Blau und Rot alternierend zur Einteilung in Sinnabschnitte. In der Klammerglosse Lombarden und Paragrafenzeichen alternierend in Blau und Rot. Verweisbuchstaben stellen die Zuordnung des Legaltexts zur Glosse her. Bei den nachfolgenden Texten zweispaltige Aufteilung der Seite, zuweilen Lombarden wie im Liber sextus bzw. ohne Farbe ausgeführt, zuweilen Platz für Initialen freigelassen.
Buchschmuck
s. Buchgestaltung.

Nachträge und Benutzungsspuren
Anmerkungen und Notizen von mehreren Händen in unterschiedlichen Schriften, wobei die ausführlichsten Annotationen zum Liber sextus von einer Hand stammen die eine dem Legaltext und der Klammerglosse vergleichbare Schrift wählte, demnach wohl zeitgenössisch im Königreich Sizilien wirkte. Ferner zahlreiche grafische Verweiszeichen.

Provenienz
Padua / Augsburg / Heidelberg.

1) 1ra–103va Digitalisat

Beteiligte Personen
Bonifaz VIII. (GND-Nr.: 118513257) / Johannes Andreae (GND-Nr.: 119244071).
Titel
Liber sextus cum Glossa ordinaria.
Angaben zum Text
Auf Veranlassung Papst Bonifaz VIII. kompilierte Dekretalensammlung mit der Glossa ordinaria des Johannes Andreae (um 1270-1348) und Grußadresse an die Universität Neapel: (1ra) Quaestio ‚Numquid episcopus possit conferre beneficium de camera‘; (1ra–c) Inhaltsverzeichnis zum Liber sextus; (1v–2rb) Kleintexte; (2va–3vc) Bulle ‚Sacrosanctae Romanae ecclesiae‘; (3vc–36vc) Liber I; (36vc–48vb) Liber II; (48vb–73vb) Liber III; (73vb–74vb) Liber IV; (74vb–95vb) Liber V; (96rb–103va) ‚De regulis iuris‘.
Incipit
3rb Bonifacius episcopus seruus seruorum dei dilectis filijs doctoribus et scolaribus vniuersis Neapoli commorantibus salutem et apostolicam benedictionem. Sacrosancte Romane [Füllzeichen] ecclesie …
Explicit
103va … Lectum est, quod is committit in legem, qui, uerba legis complectens, contra legem nittitur voluntatem.
Edition
Corpus iuris canonici 2, Sp. 929–1124. Zur Glossa ordinaria des Johannes Andreae existiert keine moderne Edition, sie ist aber bereits in zahlreichen Inkunabeln seit 1465 überliefert (GW 4848–4905).

2) 104ra–104rb Digitalisat

Titel
Annalen des Königreichs Sizilien von 1187 bis 1314.
Angaben zum Text
Annalen des Königreichs Sizilien von 1187 bis 1314. – 104v leer.
Incipit
104ra Rex Rogerius auus jmperatoris Frederici fuit filius comitis Rogerij et comitisse Adelayde sicut continetur in priuilegio pactensis ecclesie …
Explicit
104rb … anno M°.CCC.XIIII° jndictione XIIIe obijt dominus Philippus rex Francorum.

3) 105ra–106r Digitalisat

Beteiligte Personen
Gerardo Bianchi (GND-Nr.: 104315806).
Titel
Konstitutionen.
Angaben zum Text
Von Gerardo Bianchi, Bischof von Sabina, als Regent und päpstlichem Gesandten für das Königreich Sizilien am 8. Mai 1298 erlassene Konstitutionen.
Rubrik
105ra Incipiunt constitutiones, edite per dominum Gerardum Sabinensem episcopum, in regno Sicilie apostolice sedis legatum.
Incipit
105ra Uniuersis presentes litteras jnspecturis. Gerardus, miseracione diuina Sabinensis episcopus, apostolice sedis legatus, salutem in domino sempiternam …
Explicit
106rb … Data Canelli VIIIo Maij anno domini M. [!] Mo. CC. nonagesimo VIII. indictione X. pontificatus.

4) 106va–106va Digitalisat

Beteiligte Personen
Gerardo Bianchi (GND-Nr.: 104315806) / Bernardo Berardi.
Titel
Transsumpt vom 26. April 1290.
Angaben zum Text
Transsumpt vom 26. April 1290, eine Urkunde des Gerardo Bianchi, Bischof von Sabina, bestätigend, gerichtet an Bernardo Berardi (†1291), Bischof von Palestrina, vom 10. November 1289.
Rubrik
106va ›Transsumptum de suspensione pene constitutionis contra concubinaciones‹.
Incipit
106va In nomine domini. Amen. Anno a natiuitate domini Mo. CC. XC. indictione IIIa. pontificatus domini Nicolai IIII. anno III. mense Aprilis die xxvi. eiusdem …
Explicit
106va … Data Rome aput basilicam sanctorum duodecim apostolorum die xo. Nouembris jndictione IIIa.

5) 106va–107rb Digitalisat

Beteiligte Personen
Bonifaz VIII. (GND-Nr.: 118513257).
Titel
Bulle ‚Olim Celestinus papa quintus‘.
Angaben zum Text
Bulle, mit welcher Bonifaz VIII. am 8. April 1295 die Verfügungen seines Amtsvorgängers Coelestin V. aufhob.
Rubrik
106va ›Bonifacius papa viijus‹.
Incipit
106va [O]lim Celestinus papa vus. predecessor noster deuictus instancia et ambicione nimia plurimorum …
Explicit
107rb … Datum in Lateranensi iiio. Nonas Maij anno primo.
Edition
Les registres de Boniface VIII. Recueil des bulles de ce pape, Bd. 1, bearb. von Georges Digard / Maurice Faucon / Antoine Thomas, hrsg. von Antoine Thomas, Paris 1884 (Bibliothèque des écoles françaises d’Athènes et de Rome, Série 2, IV, I), Nr. 770.

6) 107v Digitalisat

Beteiligte Personen
Bonifaz VIII. (GND-Nr.: 118513257).
Titel
Bulle ‚Antiquorum habet fida relatio‘.
Angaben zum Text
Bulle, mit der Papst Bonifaz VIII. am 22. Februar 1300 ein Jubeljahr ausrief.
Rubrik
107va ›Jdem [=Bonifaz VIII.]‹.
Incipit
107va Antiquorum habet fida relacio, quod accedentibus ad honorabilem basilicam principis apostolorum de urbe, concesse sunt remissiones magne et indulgencie peccatorum …
Explicit
107va … Siquis autem hoc acceptauerit et cetera.
Edition
Corpus iuris canonici 2, Sp. 1303f.

7) 107vb Digitalisat

Beteiligte Personen
Johannes XXII. (GND-Nr.: 118557912).
Titel
Bulle ‚Quoniam nulla iuris ratio‘.
Angaben zum Text
Prooemium zu den Clementinen vom 25. Oktober 1317.
Incipit
107vb Iohannes episcopus seruus servorum dei dilectis filijs doctoribus et scolaribus uniuersis Avinioni commorantibus salutem et apostolicam benedictionem. Quoniam nulla iuris sanctio …
Explicit
107vb … Data Avinioni Kalendas Nouembris pontificatus nostri anno ij°.
Edition
Corpus iuris canonici 2, Sp. 1129–1132.

Faszikel II (Bl. 108–109)

Sachtitel / Inhalt
Liste, der unter dem Podestà von Ferrara, Andreasio Cavalcabò, Verurteilten.
Entstehungsort
Ferrara (?).
Entstehungszeit
Ende 14. Jh.
Typus (Überlieferungsform)
Faszikel.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
2 Bll.
Format (Blattgröße)
39,6 × 25,5 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
2109.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Römische Foliierung des 17. Jhs. (158 und 109) sowie ältere Foliierung (CCCCIIII und CCCCIII bzw. CCCCVII), die auf Verwendung in anderem Codex hindeutet.
Zustand
Fleckig und abgegriffen, an den Rändern eingerissen und bestoßen.

Schriftraum
34,4 × 23,9 cm.
Spaltenanzahl
1 Spalte.
Zeilenanzahl
25 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Die ersten zehn Zeilen sind in einer gotischen Kanzleikursive verfasst, die von einer ausgeschriebenen, flüchtigen jüngeren gotischen Kursiven abgelöst wird.
Buchgestaltung
Flüchtig angelegter Text ohne ausgeprägte gestalterische Intention, wie es für Verwaltungsschriftgut typisch ist.
Buchschmuck
Beginnt mit schlichter Initialgruppe ohne Farbschmuck, ansonsten keinerlei weitere Ausschmückungen.

Nachträge und Benutzungsspuren
An der Rändern Nachträge von mindestens einer weiteren zeitgenössischen Hand.

Provenienz
Padua / Augsburg / Heidelberg.

8) 108r–109v Digitalisat

Titel
Liste, der unter dem Podestà von Ferrara, Andreasio Cavalcabò, Verurteilten.
Angaben zum Text
Liste, der unter dem Podestà von Ferrara, Andreasio Cavalcabò (vor 1350–1406), Markgraf von Viadana, seit 1383 Verurteilten.
Incipit
108r ›Hecsunt condempnationes facte per nobilem et potentem militem, dominum Andreaxium marchionem de Caualcabobus, honestum potestatem ciuitatis Ferrarie et districtus …
Explicit
109v … dandis et solvendis massario communis Ferrarie nomine et vicario ipsius communis recipiendis sedentibus pro tribunali in hiis sempiternis sententiis condempnationis.


Bearbeitet von
Dr. Thorsten Huthwelker, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2024.


Zitierempfehlung:


Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 637. Beschreibung von: Dr. Thorsten Huthwelker (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2024.


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