Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 646

Jean Lemoine, Glossa aurea

Pergament · 3, 86, 1 Bll. · 40,2 × 27 cm · Frankreich · 1. Hälfte 14. Jh.


Schlagwörter (GND)
Kanonisches Recht / Dekretalensammlung / Dekretalen / Liber sextus.
Entstehungsort
Frankreich.
Entstehungszeit
1. Hälfte 14. Jh.
Typus (Überlieferungsform)
Codex.
Beschreibstoff
Pergament.
Umfang
3, 86, 1 Bll.
Format (Blattgröße)
40,2 × 27 cm.
Zusammensetzung (Lagenstruktur)
(I-1)I + 1Ia + 1II + 7 IV56 + I58 + V68 + IV76 + V86 + (I-1)87*. Vorderspiegel Gegenbl. von I, Hinterspiegel Gegenbl. von 87*.
Seiten-, Blatt- und Lagenzählung
Römische Foliierung des 17. Jhs. (1–86). Vorsatzbll. nachträglich mit Blei foliiert (I–II). Ungez. Fragment und Nachsatzbl. folgen Zählung der Digitalisate (Ia, 87*). Reklamanten durchgängig auf der letzten Versoseite der Lage auf dem Fußsteg rechts (40v mittig).
Zustand
Zahlreiche Gebrauchsspuren, Blattränder zuweilen abgeschnitten, einige Flecken, die mitunter auch von Feuchtigkeit stammen dürften. Löcher und genähte Risse waren bereits vor Niederschrift vorhanden.

Schriftraum
30,7 × 21 cm.
Spaltenanzahl
2 Spalten.
Zeilenanzahl
65–67 Zeilen.
Angaben zu Schrift / Schreibern
Möchte man wegen der häufigen Wechsel der Buchstabenformen und des Schriftduktus nicht davon ausgehen, dass ein Schreiber unterschiedliche Schriftformen gebrauchte, so muss man verschiedene Hände bei der Abschrift des Texts in Textura annehmen. Als Beleg dessen finden wir beispielsweise alle denkbaren Formen des a, vom einstöckigen zum doppelstöckigen, darunter das noch nicht geschlossene, das rechteckige und auch das Köpfchen-a. Eine Hand schrieb noch häufig ein langes s am Wortende, ein Usus, der in Frankreich in der ersten Hälfte des 14. Jhs. verschwindet (s. Derolez, Palaeography, S. 92). Eine weitere Hand verwendete Elemente der in Südfrankreich gepflegten Form der Rotunda mit ihrem breiten Duktus, den typischen Haarstrichen beim runden r, langes und rundes s am Wortende, m und n ohne Quadrangeln auf der Grundlinie aufsetzend (s. Derolez, Palaeography, S. 116f.). Die genannten Hände nahmen auch zahlreiche Ergänzungen bzw. Korrekturen auf dem Bund- und Seitensteg vor.
Buchgestaltung
Zeilengerüst mit Metallstift vorgezogen. Textblock mit einem blauen L auf der Versoseite und der dem jeweiligen Buch zugeordneten Ziffer in Rot bzw. Blau und Rot auf der Rectoseite als Seitentitel. Jedes Capitulum beginnt mit einer blauen oder roten Lombarde mit jeweils unterschiedlichem Fleuronné in Gegenfarbe (Initialen auf 1ra und 86vb nicht ausgeführt, Anweisungen für den Rubrikator vorhanden). Zur Unterteilung in Sinnabschnitte Paragrafenzeichen alternierend in Blau und Rot. Auf 4ra Titulus sowie auf 60vb und 61va Buchanfänge rubriziert. Verweise auf Textstellen des kommentierten Liber sextus durch Unterstreichungen kenntlich gemacht. Diese waren womöglich farblich unterlegt, woher die Verfärbungen der unterstrichenen Wörter herrühren könnten.
Buchschmuck
s. Buchgestaltung.

Nachträge und Benutzungsspuren
Bei den Nachträgen ist wegen der vielen verwendeten Buchstabenformen des eigentlichen Texts kaum auszumachen, ob sie von einer der Hände des Haupttexts stammen oder von einer weiteren Hand stammen könnten. Alleine Kommentare von einer älteren gotischen Kursiven lassen sich eindeutig davon ausnehmen, die nur unwesentlich jünger als der Haupttext und spätestens in der Mitte des 14. Jhs. niedergeschrieben sein dürften, wenn man in Rechnung stellt, dass auch diese in Frankreich entstanden. Grafische Verweiszeichen, v.a. in Form von Zeigehänden.

Einband
Römischer Einband, Pappe mit weißem Pergament überzogen, in Rom um 1780 gefertigt (Schunke, Einbände 2.2, S. 847). Gelb-kupferfarbenes Kapital. Rückentitel: IN DECRETALIVM LIBRI VI. apparatus. Ferner zwei blaue aufgeklebte Schildchen mit aktueller Signatur.
Provenienz
Augsburg / Heidelberg.
Geschichte der Handschrift
Blaues Schildchen mit aktueller Signatur auf Vorderspiegel. Altsignaturen auf Ir 479 (?) und 717 [beide durchgestrichen], auf IIr Call. 92 und 530, auf 1r 530, Fugger-Signatur P. 60. F. No 48. Lehmann verortete die Herstellung der Hs. in Italien (Lehmann, Fuggerbibliotheken 2, S. 480). Der paläografische Befund spricht allerdings für eine Entstehung in Frankreich. Da die Schrift von Elementen der südfranzösischen Textura durchsetzt ist, könnte sie dort auch entstanden sein, allerdings ist der paläografische Befund in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Des Weiteren spricht für eine Entstehung in Frankreich der vorgebundene Palimpsest, welcher unter der Rasur einen französischen Text des 14. oder 15. Jhs. erkennen lässt. Ende des 14. Jhs. oder im 15. Jh. könnte sich die Hs. in den Niederlanden befunden haben. Denn aus dieser Zeit dürfte der Eintrag Padbroec auf IIv stammen. Bei dem Vermerk handelt es sich wahrscheinlich um einen Besitzvermerk. Der Ort Padbroek ist mittlerweile in der Gemeinde Cuijk, in der niederländischen Provinz Nordbrabant, aufgegangen. Entweder bezieht sich das Toponym auf eine Person, die als Herkunftsbezeichnung ein ‚von Padbroek‘ im Namen führte oder um ein Mitglied der Niederadelsfamilie, die sich nach diesem Ort zubenannte, wie Arnoldus Padbroeck, von 1383 bis 1389 als Dekan des Stifts zu Grave in der Provinz Nordbrabant belegt (Ludwig Henrich Christian Schutjes, Geschiedenis van het Bisdom ’S Hertogenbosch, Bd. 3, St. Michiels-Gestel 1872, S. 794). Im 16. Jh. schließlich ist die Hs. im Besitz des Augsburgers Ulrich Fugger (1526–1584) nachweisbar, worauf die Signatur auf IIv 124. seors hindeutet (s. Einleitung). Gemäß seinem letzten Willen ging sie schließlich nach seinem Tod in das Eigentum des Kurfürsten über.

Faksimile
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bav_pal_lat_646
Literatur
Lehmann, Fuggerbibliotheken, Bd. 2, S. 480; OVL, Pal.lat.646; Schunke, Einbände 2.2, S. 847; Stevenson, Latini, S. 229; Sever J. Voicu, Note sui palinsesti conservati nella Biblioteca Apostolica Vaticana, in: Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae 16 (2009), S. 445–454, hier S. 454.
Verzeichnis der im Katalogisierungsprojekt abgekürzt zitierten Literatur

1) 1ra–86vb Digitalisat

Verfasser
Jean Lemoine (GND-Nr.: 119307405).
Titel
Glossa aurea.
Angaben zum Text
Kommentar zum Liber sextus: (1ra–1vb) Vorwort; (1vb–2va) Bulle ‚Sacrosanctae Romanae ecclesiae‘; (2va–37v) Liber I; (37vb–48vb) Liber II; (48vb–60vb) Liber III; (60vb–61va) Liber IV; (61va–79ra) Liber V; (79ra–86vb) ‚De regulis iuris‘. – Iar–Iav Fragment mit Resten eines lateinischen Texts aus dem 13. oder 14. Jh. – IIr Palimpsest, zuweilen französischer Text in Kursive des 14. oder 15. Jhs. erkennbar. – IIv leer.
Rubrik
1ra ›Incipit apparatus sexti libri decretalium, editus et promulgatus per reuerendum patrem et dominum Johannem Monachum, ecclesie beatorum Marcellini et Petri presbyterem‹.
Incipit
1ra [I]n dei nomine. Amen. Secundum philosophum scire est rem per causam cognoscere …
Explicit
86vb ›… [C]ertum estpone causa supra hoc li. de electione auaricie et supra de contrahendo emptione ad nostram c. De agricolis et censitis quemadmodum li. XI. et nota ff. De legibus l. Contra legem et l. Sequentem et supra de privilegio quanto et XIIIJ. q. III. Plerique. Johannes cardinalis.Explicit apparatus sexti libri decretalium‹.
Edition
Zur Glosse des Jean Lemoine existiert keine moderne Edition, sie ist aber bereits seit 1535 in frühneuzeitlichen Drucken überliefert: Johannes Monachus, Glossa aurea nobis priori loco super sexto decretalium libro addita cum additionibus Philippi Biturici et in supremo Parisiensi senatu advocati, Paris 1535 (ND Aalen 1968).


Bearbeitet von
Dr. Thorsten Huthwelker, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2024.


Zitierempfehlung:


Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 646. Beschreibung von: Dr. Thorsten Huthwelker (Universitätsbibliothek Heidelberg), 2024.


Katalogisierungsrichtlinien
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Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Erschließung von 876 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen lateinischen Handschriften der Heidelberger Bibliotheca Palatina in der Vatikanischen Bibliothek in Rom.