Cod. Pal. germ. 324: 'Virginal'

Ein Werk mit vielen Titeln

D-Initiale mit wildem Mann (Cpg 324, fol. 1r)

Die "Virginal" ist auch unter den Titeln "Dietrich und seine Gesellen", "Dietrichs Drachenkämpfe" und "Dietrichs (erste) Ausfahrt" bekannt. Den heute von der Forschung verwendeten Titel "Virginal" erhielt das Werk nach dem Namen der weiblichen Hauptperson, der Königin Virginal. Es handelt sich um eine Heldendichtung im Bernerton, d. h. sie wurde in einer bestimmten Strophenform abgefaßt und mit einer festgelegten Melodie vorgetragen. Entstanden ist sie vermutlich im 13. Jahrhundert im schwäbisch-alemannischen Raum. Einzelne Themen und Motive der Handlung jedoch dürften auf ältere Sagen und Sagenkreise wie die Thidrekssaga zurückgehen. Wer das Werk verfaßt hat, ist nicht bekannt.

Insgesamt wird es von 13 handschriftlichen Textzeugen überliefert, unter denen sich drei vollständige Manuskripte befinden. Der um 1440 in der Werkstatt des Diebold Lauber entstandene Cod. Pal. germ. 324 ist die älteste dieser drei Handschriften. Die beiden anderen Codices befinden sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Linhart Scheubels Heldenbuch, Cod. 5478) und in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Dresdner Heldenbuch, Mscr. M 201). Sie enthalten alle verschiedene Versionen der Dichtung. Die Fassung des Cod. Pal. germ. 324 besitzt 1097 Strophen.

Ein Heldenbuch

Kampf der Helden gegen die Drachen (Cpg 324, fol. 43r)

Die männliche Hauptfigur der "Virginal" ist Dietrich von Bern – eine Gestalt, die auf die historische Person Theoderichs d. Gr. zurückgeht. Wie der im Cod. Pal. germ. 67 überlieferte "Jüngere Sigenot" und der im Cod. Pal. germ. 359 enthaltene "Rosengarten zu Worms" gehört das Werk zu jenen Erzählungen über Theoderich, die dem historischen Vorbild zahlreiche, fiktive Abenteuer hinzufügen.

Höfisches Turnier anläßlich des Sieges (Cpg. 324, fol. 316v)

Die Heidelberger Handschrift der "Virginal" erzählt folgende Geschichte: Der heidnische Fürst Orkise ist mit seinem Heer in das Reich der Königin Virginal eingefallen. Der junge, unerfahrene Held Dietrich von Bern zieht mit seinem Lehr- und Waffenmeister Hildebrand nach Tirol, um das Waldkönigreich zu befreien. Sie geraten in schwere Kämpfe mit den Heiden, die sie aber besiegen können. Hildebrand gelingt es außerdem, eine Jungfrau aus dem Gefolge der Virginal aus heidnischer Gefangenschaft zu befreien. Dieses Mädchen läd die Helden ein, Jeraspunt, die Residenz Virginals, zu besuchen. Die Königin, die inzwischen von dem Sieg Dietrichs und Hildebrands erfahren hat, schickt ihnen den Zwerg Bibung als Boten entgegen. Aber als Bibung die Helden erreicht, sind sie bereits in erneute heftige Kämpfe mit Drachen verwickelt. Während dieser Kämpfe schafft es Hildebrand, seinen Großneffen Rentwin aus dem Maul eines Drachens zu retten. Sie begeben sich nach Arona, der Residenz von Rentwins Eltern. Dort spricht Bibung die Einladung der Königin Virginal aus. Dietrich reitet voraus, verirrt sich aber unterwegs und gelangt schließlich zu Burg Muter. Dort wird er von dem Riesen Wicram überwältigt und vom Burgherrn Nitger gefangen gesetzt. Mit Hilfe von Nitgers Schwester Ibelin kann Dietrich aber eine Nachricht nach Jeraspunt schicken, wo ihn der inzwischen dort eingetroffene Hildebrand bereits vermißt.

Um Dietrich zu befreien, versammelt man auf Jeraspunt die Berner Helden, König Immian von Ungarn, sowie Biterolf und Dietleip. Gemeinsam zieht man nach Muter, wo am Tage nach der Ankunft elf Zweikämpfe zwischen den Riesen und den Bernern ausgefochten werden. Die Berner siegen und Nitger wird Dietrichs Vasall. Aber auf dem Rückweg nach Jeraspunt müssen die Helden weitere Kämpfe bestehen: Zunächst müssen sie in weiteren elf Kämpfen erneut gegen Riesen antreten, später werden sie von Drachen angegriffen. Aber sie bleiben siegreich. Bei ihrer Ankunft in Jeraspunt gibt Virginal ein großes Fest mit Bankett, Tanz und Turnieren für die Helden. Dietrich verliebt sich beim Tanz in die schöne Königin, muß sie aber schon bald verlassen, da er von einer drohenden Belagerung Berns erfährt.

Maler, Schreiber, Auftraggeber

Wechsel der Schreiberhände (Cpg 324, fol. 95r)

Der Cod. Pal. germ. 324 ist in der Werkstatt Diebold Laubers entstanden und enthält 46 kolorierte, ungerahmte Federzeichnungen. Ihr Thema ist das höfische Leben, seine Sitten und Gebräuche. Meist handelt es sich um Kampf- oder Dialogszenen oder es werden Ankunft und Begrüßung bzw. Abreise und Abschiednehmen dargestellt. Die Illustrationen stammen von mehreren Händen – die meisten von einer eng zusammenarbeitenden Gruppe von Zeichnern. Diese als Gruppe F bezeichneten Illustratoren waren u. a. maßgeblich an der Bebilderung einer weiteren Lauber-Handschrift beteiligt, die sich heute in der Königlichen Bibliothek zu Den Haag (76 E 1, „Willehalm von Orlens“) befindet. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Illustrationen des Cod. Pal. germ. 324 und der Den Haager Handschrift einige motivische Übereinstimmungen aufweisen.

Auch der Text selbst stammt von unterschiedlichen Händen. Vermutlich waren an der Herstellung der Handschrift drei Schreiber beteiligt. Der erste schrieb den Anfang des Werks bis fol. 95r, Zeile 6, der zweite fol. 95r, Zeile 7 bis fol. 103recto, der dritte den Rest des Manuskripts. Noch heute ist auf fol. 95r im unterschiedlichen Schriftbild der Wechsel der Schreiberhände deutlich zu sehen.

Schreiberexplicit des Johannes Port (Cpg 324, fol. 352v)

Wer diese Schreiber waren, wissen wir jedoch nicht. Nur vom letzten kennen wir den Namen: Auf fol. 352v brachte er am Ende der Handschrift sein Schreiberexplicit an: hoc liberus schripsit/ Johannes port/ vnus schriptor et magister in ardibus de argen(n)tyna Amen (Dieses Buch schrieb/ Johannes port/ ein Schreiber und Magister der Künste von Straßburg). Vermutlich handelte es sich bei diesem Johannes Port um einen Straßburger Lohnschreiber, der gegen das entsprechende Entgelt Schreibaufträge annahm und ausführte.

Planwagen mit unbekannten Wappen (Cpg 324, fol. 251r)

Unbekannt ist auch, wer die Handschrift bei Diebold Lauber und dem von ihm zumindest teilweise mit der Abschrift beauftragten Johannes Port bestellt hat. In der Illustration auf fol. 251r sind zahlreiche Wappen zu erkennen, die sich bisher jedoch nicht einer bestimmten Familie oder Person zuordnen lassen. Um 1556-1559 befand sich das Manuskript in der älteren Heidelberger Schloßbibliothek, aber spätestens 1581 gehörte es zum Bestand der in der Heiliggeistkirche aufgestellten, von der Universität benutzten Bibliothek. 1622/ 1623 kam es mit deren Bänden in die Bibliotheca Vaticana nach Rom.

Literatur

© Ulrike Spyra, Maria Effinger, Universitätsbibliothek Heidelberg, 09/2008