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Müller, Michael Christian; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Orgeldenkmalpflege: Grundlagen und Methoden am Beispiel des Landkreises Nienburg/Weser — Hameln: Niemeyer, Heft 29.2003

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.51261#0045
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Die musikalisch-künstlerische Bedeutung
Die Geschichte des Orgelbaus stellt sich vielfach als
Orgelumbaugeschichte, schlimmstenfalls als Orgelver-
nichtungsgeschichte dar: Der Neubau eines Instruments
führt häufig unweigerlich zum Abbruch seines Vorgän-
gers - ungeachtet seiner Bedeutung. Die Betrachtung
nicht nur der letzten 100 Jahre zeigt auf, dass das Ver-
ständnis bzw. die Begeisterung für Orgeln den einfüh-
rend erwähnten Moden bzw. phasenweisen Ge-
schmackswandlungen unterworfen ist:56 Ist die Akzep-
tanz von Instrumenten, die bis zum Zweiten Weltkrieg
entstanden sind, weitgehend unbestritten, muss im Fall
der Orgeln aus den 1950er und 1960er Jahren um den
Erhalt eindrücklich geworben werden. Zwar ist auch hier
bereits eine verstärkte Auseinandersetzung mit den zeit-
lichen Hintergründen zu bemerken, die sich auch ver-
mehrt in Publikationen niederschlägt,57 doch fehlt noch
immer häufig ein Zugang zu den musikalisch-künstleri-
schen Konzepten, die die einzelnen Instrumente prägen.
Diese Problematik weist darauf hin, dass vor die
Bewertung der künstlerischen Qualität zunächst einmal
das Erkennen der jeweiligen musikalischen Konzeption
zu treten hat.
Und eine weitere Anforderung ist neben der
Erkenntnisebene mit einer Bewertung verbunden: Eine
Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Wert einer
Orgel aus denkmalpflegerischer Sicht muss in jedem Fall
unabhängig von dem eigenen musikalischen Standpunkt
des Beurteilenden erfolgen. Erkenntnisphase und
Bewertungsphase haben vielmehr in Relation zu Ver-
gleichsinstrumenten zu erfolgen, um wenigstens nähe-
rungsweise Maßstäbe zu erhalten, die nachvollziehbar
und begründet sind. Für den methodischen Ansatz
bedeutet dies, dass sich die Einschätzung des künstleri-
schen Wertes an der konkreten Aufgabenstellung zu
orientieren hat, die für den Orgelbauer zu seiner Zeit
maßgeblich gewesen ist.58
Korrelate einer solchen Aufgabenstellung sind einerseits
die musikgeschichtliche bzw. die architektur- und kunst-
geschichtliche Position - im Sinne eines kulturgeschicht-
lichen Querschnitts -, andererseits und insbesondere
aber die konkreten Rahmenbedingungen, die dem
Orgelbauer durch den Kirchenraum, die Funktion des
Instruments, die Auftraggeber und auch die eigene
Werkstatttradition gegeben waren. Schließlich muss
man auch daran denken, dass sehr qualitätvolle und
künstlerischinnovative Orgeln Vorbildcharakter hatten
und dass sich die zeitgleiche Kompositionspraxis mit den
Fortschritten im Orgelbau weiterentwickelte, wodurch
sich die musikalisch-klanglichen Konzepte im Orgelbau
wiederum verschieben konnten. Zum Beispiel sahen wir
bereits, dass für Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts die
optimale Verschmelzung der Register zu charakteristi-
schen, homogenen Solostimmen im Vordergrund stand.

Die Orgel des späten 19. Jahrhunderts lebte dagegen
von - je nach Größe des Instruments - fein abgestuften
dynamischen Schattierungen.59
Ob und in welchem Maße zeittypischen künstlerischen
Vorstellungen - musikalisch und architektonisch - sowie
kunsthandwerklichen Qualitätsstandards in origineller
Weise entsprochen wurde oder diese im kreativen Sinne
weiterentwickelt wurden, erscheint demnach als metho-
dische Fragestellung, um eine hinreichend begründete
Aussage zur musikalischen Erlebnisqualität entwickeln
zu können. Geht man von dem der Orgel eigenen und
daher angemessenen ganzheitlichen Ansatz aus, liegt
eine besondere künstlerische Bedeutung genau dann
vor, wenn aufgrund dieses methodischen Zugangs ein
„besonderes gestalterisches Schaffen" zu erkennen ist,
das insbesondere in „der für das Künstlerische wesent-
lichen Originalität" festzumachen ist.60 KAUFMANN
fasst dies so zusammen: „Als definitive Kennzeichen für
die Güte eines Instruments lassen sich die Qualität in der
handwerklichen Ausführung und die klangliche
Fähigkeit zur Formulierung einer eigenständigen musi-
kalischen Aussage postulieren, die in ihrem Zusammen-
treffen erst sinnvoll eine künstlerische Verwendung
ermöglichen. "61
Aus dem bisher Gesagten folgt, dass auch die musika-
lisch-künstlerische Qualität bei aller gebührender
Vorsicht ein füllbares Kriterium darstellt, da sie immer in
einem zeitlichen Kontext steht, der durch eine charakte-
ristische Wechselwirkung von Kompositionspraxis und
Orgelbau im engeren Sinne und durch das Wirkungs-
geflecht kulturgeschichtlicher Phänome im weiteren
Sinne geprägt ist. Von besonderer praktischer Bedeu-
tung ist nun aber, dass die Zusammenfassung durch
KAUFMANN ein Korrelat zur musikalischen Wirkung der
Orgel beschreibt, das in messbaren Größen bzw.
benennbaren Merkmalen fassbar ist, die konkrete
handwerklichmaterielle Umsetzung der musikalisch-
klanglichen Idee:62
• zum Beispiel im Fall des Pfeifenwerks: in den zeitlich,
regional oder personal charakteristischen Dispositions
bzw. Mensurationspraktiken sowie Intonationstechni-
ken, die sich u. a. auf die Auswahl der darstellbaren Or-
gelliteratur und das standortbezogene Registrieren aus-
wirken, welches seinerseits wiederum in Abhängigkeit
von den zeitgenössischen Kompositionsformen steht:
■ zum Beispiel im Fall der Trakturen: in den System- und
materialbedingten Eigenschaften, die sich unmittelbar
auf die musikalische Interpretation auswirken, die der
Organist erzielen kann (Artikulation etc.).
■ zum Beispiel im Fall der Windversorgung: in der
systembedingt differierenden Erzeugung des
Orgelwindes, die wiederum zeittypisch ist und mit den
zeitgleichen Kompositionen korreliert.

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