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Rolf Schäfer

Das theologische Programm der Kanzel

Reliefs in der Brustzone zum Himmel gehören. Auf
der Erde dagegen befinden sich der Baum und die
drei Personen an seinem Fuß.
Nun bleiben aber Himmel und Erde nicht auf die
Dauer geschieden. Wie sie zusammenkommen, hat
Münstermann durch einen ungewöhnlichen opti-
schen Eindruck unterstrichen. Zu seiner Zeit dürfte
die Gemeinde noch unmittelbar verstanden haben,
was gemeint war. Heute muss es ausdrücklich gesagt
werden.
Weil das Wort Gottes und damit auch die Predigt
einen himmlischen Ursprung haben, aber sich auf
Erden offenbaren sollen, senkt sich der Kanzelkorb
samt Baldachin langsam auf den Baum nieder, be-
rührt das Geäst der Baumkrone und verharrt dort in
der Schwebe. Es ist nämlich für das menschliche Wirk-
lichkeitsbewusstsein nicht nachvollziehbar, dass dieses
dünne Geäst eine so große und schwere Kanzel tra-
gen kann. Auch das Rodenkirchener Altarretabel lässt
Münstermann wie das himmlische Jerusalem von
oben herabkommen, ohne dass die tragenden Säulen
schon auf den ihnen zugedachten Basen aufsetzen.23

Was auf der Kanzel gesagt wird, ist deswegen nicht
menschlichen Ursprungs. Dies zeigt das Bibelwort
(Matthäusevangelium 10, 20), das in erhabenen
Buchstaben über den Propheten und Evangelisten
unterhalb des Frieses um die Kanzel läuft. Es lautet
(nach der heutigen Übersetzung): Ihr seid es nicht, die
da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch
euch redet. Diese Verheißung, mit der Jesus seinen
Jüngern in der Aussendungsrede des Matthäusevan-
geliums Mut in Verfolgung zuspricht, wird hier auf die
Gemeindepredigt angewandt: Was also hier von der
Kanzel her als Auslegung der Bibel zu hören ist,
kommt wie am Pfingstfest durch den Geist Gottes von
oben.
Münstermann ist nicht der einzige Künstler, der die
himmlische Herkunft des göttlichen Wortes mit sei-
nen Mitteln zum Ausdruck gebracht hat. Später wird
es beliebt, die Kanzel von Engeln24 in den Kirchen-
raum herunter tragen zu lassen. Überall, wo bei einer
Kanzel dieses Schweben erzielt wird, kommt die
Ehrfurcht vor dem Ursprung des Evangeliums zum
Ausdruck.

Anmerkungen
1 Warum Ramsauer 1909, S. 183, ihn unter dem Namen
Mag. Everhardus Petri verzeichnet, kann hier nicht geklärt
werden. Die Richtigkeit des Vornamens Gerhardus ist durch
die Inschrift an der Kanzel gesichert.
2 Die Bau- und Kunstdenkmäler 1909 (S. 41) halten die
Figur für einen Engel. Weil ihr zeitenweise die Flügel abge-
falien waren, ist sie für Riesebieteri 930 S. 42 nurmehr eine
Figur, die das Modell der Kirche trägt. Poscharsky 1963, der
die maßgebliche Monographie über die protestantische
Kanzel geschrieben und dabei auch die Rodenkirchener
Kanzel ausführlich behandelt hat, spricht S. 133, S. 189
wieder von einem Schutzengel oder Patron.
3 Dietmar Ponert. In: Knollmann 1992, S. 165. - Zum
Gesamtprogramm der Kirchenausstattung in Varel vgl.
Schäfer 1999, S. 266-276.
4 Luther 1883, Band 35, S. 462 f.; Luther 1982, Band 5,
S. 274 f.
5 Im Jahr 62 n. Chr. traf die Urgemeinde in Jerusalem eine
schwere Verfolgung, sodass sie fliehen musste und sich in
der Stadt Pella im Ostjordanland niederließ.
6 Knollmann 1992, S. 165.
7 Fliedner 1962, Abb. 12. S. unten Abb. 74.
8 Bekenntnisschriften 1986, S. 499-527.
9 Bekenntnisschriften 1986, S. 543-733.
10 Vgl. Bekenntnisschriften 1986, S. XXXII-XLIV und S.1.
11 Bekenntnisschriften 1986, S. 655.
12 Schiller 1969, S. 20-22. - Knollmann 1992, S. 216.
13 Luther 1883, Band 35, S. 422-425; Luther 1982,
Band 5, S. 249-252.
14 Schiller 1968, S. 198-210.

15 Evangelisches Gesangbuch 1994, Nr. 81.
16 Kirschbaum 1974, Bd. 2, Sp. 529.
17 Die Frage, ob den Namen jeweils das richtige Porträt
zugeordnet ist oder ob Verwechslungen stattgefunden
haben, muss hier offen bleiben. Für die Beurteilung des
theologischen Bildprogramms sind jedoch die Namen aus-
reichend.
18 Bekenntnisschriften 1986, S. 21-30.
19 Bekenntnisschriften 1986, S. 1101-1135; zu Cyrillus vgl.
das Zitatenregister II, S. 1149.
20 Knollmann 1992, S. 82; Reinitzer 2006 (1) S. 457 f. (Nr.
790); (2) S. 57 (Abb. 37).
21 Die Dreiergruppe besteht bei Altdorfer (von links) aus (1)
dem Propheten Jesaja, der gemäß seiner Prophezeiung Jes
7, 14 nach rechts oben auf die Jungfrau Maria weist, (2)
dem Menschen, der vor der Entscheidung steht, und (3)
Johannes dem Täufer als dem Prediger des Evangeliums,
der auf den Gekreuzigten zeigt. Münstermann ersetzt
Jesaja durch Mose, um den Gegensatz von „Gesetz und
Gnade" deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Er folgt damit
einer Variante des Cranach-Entwurfs, die sich u. a. bei dem
Hamburger Ratsmaler Franz Timmermann findet: Hofmann
1984, 75 (Farbtafel 3) und 214 Nr. 87; Reinitzer 2006 (1)
S. 255 f. (Nr. 298); (2) S. 93 (Abb. 55).
22 Schäfer 2006, S. 86-90.
23 Schäfer 2002, S. 30.
24 Poscharsky 1963, 130 und Abb. 10. 49. 58. 59.
 
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