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Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel
Peter Königfeld
Vorbemerkung
Ludwig Münstermanns 1631 datierte Kanzel in Ro-
denkirchen gehört zu seinen eindrucksvollsten Arbei-
ten, die im Oldenburger Land erhalten geblieben sind.
Dieses Kunstwerk soll im Folgenden im Kontext des
Werkes dieses bedeutendsten Bildhauers Nord-
deutschlands am Beginn des 17. Jahrhunderts und
seines künstlerischen Umfeldes untersucht werden. Es
werden wohlgemerkt keine neuen Forschungsergeb-
nisse vorgetragen, sondern der breit gefächerte aktu-
elle Wissensstand referiert. Dabei stehen das komple-
xe Bildprogramm der Kanzel und seine ikonografi-
schen Besonderheiten im Zentrum der Betrachtung.
Die protestantische Kanzel -
ihre Entwicklung und Stellung im Raum
Jeder Ort, von dem gepredigt wurde, wird von alt-
christlicher Zeit an im Sprachgebrauch als Kanzel
bezeichnet. Ein klare Definition des Begriffes hat erst-
mals Peter Poscharsky gegeben: „Wir verstehen unter
„Kanzel" die Stätte im Kirchenraum, die primär der
Predigt, der Verkündigung des Wortes Gottes, dient.
In den lutherischen Kirchen werden von der Kanzel
37 Die Predigt des HL Franziskus (Ausschnitt). Stralsund,
Dominikanerkloster St. Katharinen. Franziskus predigt von
einem einfachen hölzernen Pult aus, das jeweils dort aufge-
stellt werden konnte, wo sich Zuhörer versammelten.
neben der Verlesung des Predigttextes und der Pre-
digt selbst noch Kanzelgruß und Kanzelsegen gespro-
chen, mancherorts ein kurzes Gebet vor oder nach
der Predigt, und regelmäßig die Ankündigungen ver-
lesen."1 Damit wird eine Abgrenzung gegen die
Vorläufer der Kanzel [ambo, cathedra, Lettner] deut-
lich, die neben anderen, in jedem Gottesdienst geüb-
ten Verwendungszwecken auch und in zweiter Linie
der nicht allerorts und nicht zu allen Zeiten geübten
Predigt dienen.
Will man die Kanzel in Rodenkirchen als ein herausra-
gendes Kunstwerk des Protestantismus in ihrer
Gestalt, Funktion und Stellung im Kirchenraum ver-
stehen, muss man sich zunächst vor Augen führen,
welche Situation die Reformation in Hinblick auf die
Kanzel und die Predigt vorfand. Beide wurden von
den Reformatoren ja nicht neu entwickelt, sondern im
Wesentlichen aus der vorreformatorischen Zeit über-
nommen. Zu ihrem Verständnis ist daher ein Blick auf
die mittelalterlichen Vorläufer unumgänglich.
„Erfinder" der Kanzel waren die drei Bettelorden, die
Dominikaner, die Franziskaner und die Augustiner-
Eremiten, die ihre Aufgabe darin sahen, in den
Städten mit ihren neuen sozialen Schichten durch
Predigt und Seelsorge den wahren christlichen
Glauben zu vermitteln (Abb. 37).2 Hatte die Predigt bis
dahin ihren Platz fast ausschließlich innerhalb der
sonntäglichen Messe gehabt, wurde es nun üblich,
dass sie losgelöst von der Liturgie stattfand. „Die
Bettelorden haben aber nicht nur für ihre Predigten
unter freiem Himmel die Kanzel „erfunden" (Abb.
38), sondern ihr auch einen festen Standort in der
Kirche zugewiesen und ihre eigenen Kirchen gleich-
sam um die Kanzel gebaut. ... Deshalb können wir
die Bettelordenskirchen, die gleichsam um den
Prediger und seine Zuhörer herum gebaut wurden
und bei denen somit die Kanzel raumbildend war, als
Predigtkirchen ansprechen, die bereits verwirklichen,
was man im allgemeinen immer erst dem Kirchenbau
des Protestantismus zuschreibt."3 Da der Prediger mit
den unmittelbar unter ihm stehenden Gläubigen kon-
frontiert war, konnte auf den akustisch wirksamen
Schalldeckel verzichtet werden. Er wurde erst im
Protestantismus notwendig, um die Predigt einer über
den gesamten Kirchenraum verteilt sitzenden
Hörerschaft verständlich zu machen.“
Im Laufe des 14. Jahrhunderts erhielt die Predigt ihren
Platz auch in den Pfarrkirchen, wobei die Stellung der
Kanzel aus den Ordenskirchen übernommen wurde.
Die Predigt behielt aber ihre Sonderstellung, weil sie
in der Landessprache erfolgte und einem eigens dafür
angestellten Prediger überlassen wurde, dessen
Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel
Peter Königfeld
Vorbemerkung
Ludwig Münstermanns 1631 datierte Kanzel in Ro-
denkirchen gehört zu seinen eindrucksvollsten Arbei-
ten, die im Oldenburger Land erhalten geblieben sind.
Dieses Kunstwerk soll im Folgenden im Kontext des
Werkes dieses bedeutendsten Bildhauers Nord-
deutschlands am Beginn des 17. Jahrhunderts und
seines künstlerischen Umfeldes untersucht werden. Es
werden wohlgemerkt keine neuen Forschungsergeb-
nisse vorgetragen, sondern der breit gefächerte aktu-
elle Wissensstand referiert. Dabei stehen das komple-
xe Bildprogramm der Kanzel und seine ikonografi-
schen Besonderheiten im Zentrum der Betrachtung.
Die protestantische Kanzel -
ihre Entwicklung und Stellung im Raum
Jeder Ort, von dem gepredigt wurde, wird von alt-
christlicher Zeit an im Sprachgebrauch als Kanzel
bezeichnet. Ein klare Definition des Begriffes hat erst-
mals Peter Poscharsky gegeben: „Wir verstehen unter
„Kanzel" die Stätte im Kirchenraum, die primär der
Predigt, der Verkündigung des Wortes Gottes, dient.
In den lutherischen Kirchen werden von der Kanzel
37 Die Predigt des HL Franziskus (Ausschnitt). Stralsund,
Dominikanerkloster St. Katharinen. Franziskus predigt von
einem einfachen hölzernen Pult aus, das jeweils dort aufge-
stellt werden konnte, wo sich Zuhörer versammelten.
neben der Verlesung des Predigttextes und der Pre-
digt selbst noch Kanzelgruß und Kanzelsegen gespro-
chen, mancherorts ein kurzes Gebet vor oder nach
der Predigt, und regelmäßig die Ankündigungen ver-
lesen."1 Damit wird eine Abgrenzung gegen die
Vorläufer der Kanzel [ambo, cathedra, Lettner] deut-
lich, die neben anderen, in jedem Gottesdienst geüb-
ten Verwendungszwecken auch und in zweiter Linie
der nicht allerorts und nicht zu allen Zeiten geübten
Predigt dienen.
Will man die Kanzel in Rodenkirchen als ein herausra-
gendes Kunstwerk des Protestantismus in ihrer
Gestalt, Funktion und Stellung im Kirchenraum ver-
stehen, muss man sich zunächst vor Augen führen,
welche Situation die Reformation in Hinblick auf die
Kanzel und die Predigt vorfand. Beide wurden von
den Reformatoren ja nicht neu entwickelt, sondern im
Wesentlichen aus der vorreformatorischen Zeit über-
nommen. Zu ihrem Verständnis ist daher ein Blick auf
die mittelalterlichen Vorläufer unumgänglich.
„Erfinder" der Kanzel waren die drei Bettelorden, die
Dominikaner, die Franziskaner und die Augustiner-
Eremiten, die ihre Aufgabe darin sahen, in den
Städten mit ihren neuen sozialen Schichten durch
Predigt und Seelsorge den wahren christlichen
Glauben zu vermitteln (Abb. 37).2 Hatte die Predigt bis
dahin ihren Platz fast ausschließlich innerhalb der
sonntäglichen Messe gehabt, wurde es nun üblich,
dass sie losgelöst von der Liturgie stattfand. „Die
Bettelorden haben aber nicht nur für ihre Predigten
unter freiem Himmel die Kanzel „erfunden" (Abb.
38), sondern ihr auch einen festen Standort in der
Kirche zugewiesen und ihre eigenen Kirchen gleich-
sam um die Kanzel gebaut. ... Deshalb können wir
die Bettelordenskirchen, die gleichsam um den
Prediger und seine Zuhörer herum gebaut wurden
und bei denen somit die Kanzel raumbildend war, als
Predigtkirchen ansprechen, die bereits verwirklichen,
was man im allgemeinen immer erst dem Kirchenbau
des Protestantismus zuschreibt."3 Da der Prediger mit
den unmittelbar unter ihm stehenden Gläubigen kon-
frontiert war, konnte auf den akustisch wirksamen
Schalldeckel verzichtet werden. Er wurde erst im
Protestantismus notwendig, um die Predigt einer über
den gesamten Kirchenraum verteilt sitzenden
Hörerschaft verständlich zu machen.“
Im Laufe des 14. Jahrhunderts erhielt die Predigt ihren
Platz auch in den Pfarrkirchen, wobei die Stellung der
Kanzel aus den Ordenskirchen übernommen wurde.
Die Predigt behielt aber ihre Sonderstellung, weil sie
in der Landessprache erfolgte und einem eigens dafür
angestellten Prediger überlassen wurde, dessen