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Das theologische Programm der Kanzel
Rolf Schäfer

Die Münstermann-Kanzel in Rodenkirchen (1631)
sucht das Christentum in seiner ganzen Fülle darzu-
stellen. Himmel und Erde, Schöpfung und Erlösung,
Sünde und Gnade, Altes und Neues Testament,
Gegenwart und Zukunft treten vor Augen. Was beim
Gottesdienst die Sprache in Lesung, Gebet und Aus-
legung in Worte fasst, was die Musik in Gemeinde-
lied, Chorgesang und Orgelspiel eindringlich macht,
das schaut das Auge in den Bildern an, die an der
Kanzel begegnen.
Diese Bilder zeigen uns zunächst eine Reihe von Glau-
bensgegenständen: Gott sitzt als Person im Himmels-
saal und spricht mit dem Sohn zu seiner Rechten,
während der heilige Geist in Gestalt einer Taube über
die Pfingstversammlung der Apostel kommt und die
Kirche erschafft. Die Theologie hat sich mit diesen
Bildern und ihrem theologischen Programm - ihrer
Auswahl, Anordnung und Absicht - zu befassen. Da
Münstermann schon viele Ausstattungsstücke für Kir-
chen geschaffen hatte, besaß er offenkundig ein be-
trächtliches Maß an Verständnis für theologische Vor-
stellungen. Einen weiteren Faktor bei der Planung des
Bildprogramms stellte die Handwerkstradition dar, die
durch die damals gängigen Musterbücher unterstützt
wurde. In Rodenkirchen weist außerdem alles darauf
hin, dass das Bildprogramm der Kanzel maßgeblich
durch den dortigen Ersten Prediger bestimmt wurde:
Magister Gerhardus Petri (geboren 1583 in Jade,
1611 Erster Pfarrer in Rodenkirchen, dort 1652 ge-
storben)1.
Im Folgenden soll versucht werden, in einer kurzen
Führung durch die verschiedenen Stockwerke der
Kanzel die einzelnen Bildelemente nach Herkunft und
Bedeutung zu erklären und ihren Zusammenhang mit
der Glaubenserfahrung des frühen 17. Jahrhunderts
aufzuzeigen.
Für eine theologische Deutung des Bildprogramms
reicht diese historische Betrachtung allerdings nicht
aus. Sie setzt vielmehr die Bereitschaft voraus, sich in
das religiöse Erleben jener Zeit hineinzuversetzen. Das
Christentum ist eine Religion, die sich der Zeit öffnet,
in der sie gelebt wird. Schon der aus dem Neuen
Testament bekannte Anfang in Jesus von Nazareth ist
nicht nur räumlich (geografisch), sondern auch zeit-
lich (historisch) eindeutig bestimmt und damit auch
begrenzt. Er kann nur verstanden werden, wenn man
ihn auf dem Hintergrund der alttestamentlichen
Frömmigkeit und der zeitgenössischen griechisch-
römischen Bildung sieht. Ebenso bestehen die nach-
folgenden Generationen der christlichen Gemeinde
aus Menschen, die jeweils in ihrer Zeit zu Hause sind
und deshalb ihren Glauben im Horizont der eigenen

Kultur ausdrücken. Wir können weder voraussetzen,
dass die Bilder der Münstermann-Kanzel ein unmittel-
barer Ausdruck heutiger christlicher Glaubenser-
fahrung sind, noch dass die damalige Glaubenserfah-
rung uns ohne weiteres plausibel erscheint. Gerade
weil der Glaube wirksam in die Geschichte eingreift,
verändert er auch die Bedingungen, unter denen er
aufgenommen, verwirklicht und ausgedrückt wird.
Neue Formen drängen sich in den Vordergrund, viele
ändern ihre Bedeutung, nicht wenige werden ver-
gessen.
Da wir jedoch die Fähigkeit besitzen, anhand von
geschichtlichen Zeugnissen uns in vergangene seeli-
sche Zustände hineinzuversetzen, ist es reizvoll, sich
auf die Bilderwelt der Kanzel einzulassen, um sie von
innen heraus zu verstehen. Erst wenn wir erfasst
haben, was sie ihrer Zeit zu sagen hatte, können wir
uns Rechenschaft geben, ob und was sie für unsere
Zeit bedeutet. Das Bildprogramm der Kanzel korres-
pondiert der Glaubenserfahrung ihrer Entstehungs-
zeit.
Im Folgenden werden die an der Kanzel vorkommen-
den Bildwerke von oben nach unten besprochen. Die
Bezeichnung des jeweiligen Stockwerks richtet sich
nach der Liste bei Peter Königfeld, Kunstgeschicht-
liche Anmerkungen zur Kanzel in der Rodenkirchener
St. Matthäuskirche, S. 44 ff. Diese Abhandlung und
die beigegebene Liste der verwendeten Literatur
wird auch bei dieser Untersuchung des theologischen
Programms vorausgesetzt.
1. Ecclesia
(Stockwerk 6: Bekrönende Figur)
Zu den heute weithin vergessenen Ausdrucksformen
der Glaubensinhalte des 16. und 17. Jahrhunderts
gehört die weibliche Gestalt, die zuoberst auf dem
Schalldeckel der Kanzel steht: eine geflügelte und
gekrönte Frau2 (Abb. 23). Sie stellt denselben Glau-
bensgegenstand dar wie die gleichgestaltige Figur in
der Vareler Schlosskirche: die Kirche (Ecclesia) selbst3
(Abb. 74). Ihre Bedeutung erschließt sich, wenn man
ihre biblische Herkunft und Luthers Auslegung beach-
tet, die zur Zeit Münstermanns noch präsent war.
Die Vorstellung der Kirche als Frauengestalt stammt
aus dem 12. Kapitel der Johannesoffenbarung (Apo-
kalypse, abgekürzt Apk). Dort wird von einer Vision
berichtet, bei der dem Seher Johannes ein großes
Zeichen am Himmel erscheint: Eine Frau, mit der
Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen
und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen
(Apk 12, 1). Die Frau ist schwanger und gebiert einen
 
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