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Peter Königfeld

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Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel

Eine Angleichung der Säulenordnungen an das mittel-
europäische Stilempfinden schaffte der zur Zeit
Münstermanns auch in Hamburg tätige niederländi-
sche Künstler und Architekturtheoretiker Hans Vrede-
man de Vries, der in seinen Säulenbüchern die zeitge-
nössische Roll- und Beschlagwerkornamentik den ver-
schiedenen Säulengenera anpasste. Forssman charak-
terisierte dessen „Architectura"37 als den „Griff des
Nordländers um den kalten Marmorschaft, die Er-
oberung der Materie ohne klassizistische Bedenken.
... Erst Vredeman de Vries vermählte die Theorie mit
dem angeborenen Geschmack des Nordens" und
anverwandelte die klassisch proportionierte Säule so,
dass „die nordischen Handwerker Freude daran" hat-
ten.38 Mit seinen ornamentalen und kühnen architek-
turillusionistischen Darstellungen (Abb. 43) hat er
Münstermanns Gestaltungen nachhaltig beeinflusst.39
Anregungen bot aber insbesondere auch Wendel
Dietterlins berühmte „Architectura" von 1593/94, der
die Verwendung der fünf antiken Säulenordnungen in
variantenreichen Architekturentwürfen von uner-
schöpflichem Erfindungsreichtum vorführt (Abb. 44).
Dieses Werk steht in der Tradition des Musterbuches,
verzichtet also weitgehend auf eine Kommentierung
und theoretische Einordnung der zahlreichen Abbil-
dungen. Jedoch finden sich die vielen Stichvorlagen
für Tore, Fenster und Kamine in einer durch die fünf
Säulenordnungen gegebenen Abstufung, wobei jede
Säulenordnung einer „Seinssphäre" zugeordnet wird
(Abb. 45). So steht die Toskanische Ordnung für das
Bäuerlich/Rustikale, die Dorische für das Soldatische
usw. Es wäre aber verfehlt, sie lediglich als Dekoration
auffassen zu wollen. „Erst wenn man etwas von der
Sprache der Säulen versteht, kann man überhaupt
einsehen, warum Dietterlin seine Architectura in fünf
Teilen präsentiert .... Auch die Zierden an Kapitellen,
Friesen, Portalen usw. sind nicht beliebig ersonnen
und über das Werk verstreut, sondern trotz ihres
eigenwilligen manieristischen Stils von fünf Säulen-
ordnungen [ausgehend von Serlios an antiken Vorla-
gen geschulten Architekturbüchern] folgerichtig ent-
wickelt".40 Für Münstermann boten sie lediglich das
Gerüst, in das er seine Figuren und szenischen Dar-
stellungen spektakulär hineinkomponierte.
Die Frage nach seinen sonstigen Vorlagen lässt sich
nur annäherungsweise beantworten, da er sicher für
seine einzelnen Arbeiten durchaus verschiedene Vor-
lagen verwendet haben wird und seiner eigenwilligen
Umsetzung keine Schranken gesetzt waren.41 Für die
in Norddeutschland am Anfang des 17. Jahrhunderts
arbeitenden Künstler waren aber besonders die vielen
Schreinerbücher in der Nachfolge Wendel Dietterlins
von besonderer Bedeutung.42 Auch im ornamentalen
Dekor Münstermanns markiert sich der Einfluss dieser
Publikationen, in denen sich eine Vielzahl von euro-
päischen Ornamenttypen geradezu synkretistisch ver-
mischten: Beschlagwerk, Rollwerk, Schweifwerk,


42 Walther Hermann Ryff, Darstellung von Säulen und
Kapitellen nach Vitruvius, 1548. Vom 15. Jahrhundert an
beeinflusste der antike Architekturtheoretiker Vitruvius alle

europäischen Architekturtraktate und die europäische
Architekturtheorie. Die erste deutsche Ausgabe des klassi-
schen Architektur-Buches mit dem reichen Kommentar von
Ryff zeichnet sich durch seine umfassende Kenntnis der
Architekturtheorie der Renaissance aus und entfaltete
damit eine breite Wirkung auf die weitere Entwicklung
von Kunst und Architektur in Deutschland.


43 Hans Vredeman de Vries, offene Säulenhalle. In seiner einflussreichen
„Perspective" zeigt der Künstler architektonische Szenarien, mit der er seine
Methode der perspektivischen Darstellung erläutert.
 
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