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Peter Königfeld

Kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Kanzel

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Sie lieferten auch Münstermann entscheidende An-
regung. Die dort vorgeführte charakteristische „figu-
ra serpentinata" nutzte er für seine komplizierten Fi-
gurenkompositionen und die expressive Deformation
seiner Bildwerke, in der älteren Ecclesia in Varel bei-
spielsweise erkennbar stärker ausgeprägt als in der
jüngeren in Rodenkirchen. Hier erscheint die Geziert-
heit dieses vor allem am Hofe des 1612 verstorbenen
Kaisers Rudolph II. gepflegten raffinierten, symbolrei-
chen und extrovertierten Stils, mit dem die Renaissan-
ce eine letzte Steigerung erlebte, aber bereits im Sin-
ne des folgenden Barock abgeschwächt und gezü-
gelt.49 Hierzu mag auf dem Wege über die Niederlan-
de der Einfluss der Malerei Caravaggios beigetragen
haben, der durch Verknüpfung des Sakralen mit dem
Profanen neue künstlerische Wege öffnete, mit denen
er als einer der Überwinder des Manierismus gilt.
Auch wenn der für seine Zeit übliche Bezug auf grafi-
sche Vorlagen und die Abhängigkeit von tradierten
Formen und Sinngehalten der Vorbilder zu konstatie-
ren ist - Münstermann verharrte nicht im Epigonen-
haften: „Uneingeschränkte Bewunderung verdient...
der Mut und die kreative Vorstellungskraft, mit der
Münstermann die Irrealität der Architekturphantasien
seiner Vorlagen in die wirkliche Dreidimensionalität
einer gebauten und inszenierten Bühnenwelt zu ver-
wandeln und ihre Wirkung in einer symbolhaften
Lichtregie zu steigern weiß ... Doch bleibt auch wie
selbstverständlich die persönliche Handschrift des
Bildhauers, seine nur ihm eigene Formulierungskunst
im jeweils gewählten Material und der Behandlung
seiner Oberfläche, bei der Anverwandlung der
anregenden, aber auch begrenzenden Vorlage zu
beschreiben."50
Farbfassungen der Werke Münstermanns
Die Bildwerke, die Münstermann geschaffen hat, sind
bewusst gestaltete Gesamtinszenierungen aus Form
und Farbe, in denen durch das Zusammenspiel, auch
der nicht polychromierten Einzelelemente, die beab-
sichtigte Wirkung eintritt.
Bereits während der Instandsetzungsmaßnahmen, die
seit den fünfziger Jahren an nahezu allen Altären,
Kanzeln, Taufen und Epitaphen Münstermanns durch-
geführt worden sind, waren die sehr starken Ab-
weichungen in der Farbgebung der einzelnen zu einer
Raumausstattung gehörenden Werke aufgefallen.
Neben den mit Leimüberzügen versehenen, teilpoly-
chromierten Kanzeln in Schwei, Rastede und Roden-
kirchen sowie dem Orgelprospekt aus der Schloss-
kapelle in Rotenburg/Wümme (Bremen, Focke-
Museum) standen aufwändige Farbfassungen an den
Altären in Varel, Rodenkirchen und Hohenkirchen, an
der dortigen Kanzel und am Vareler Taufbecken.
Ponert versucht die „merkwürdigen Unterschiede im
Charakter der Fassungen ... durch historisch belegte
Umstände zu erklären, daß etwa die Kanzel in


46 Aegidius Sadeler nach Bartholomäus Spranger, Triumph
der Weisheit über die Ignoranz. Kupferstich, um 1600.
Nach einem Gemälde von Bartholomäus Spranger in Wien,
Kunsthistorisches Museum.

Rodenkirchen wesentlich sparsamer bemalt ist als der
dortige Altar, weil nämlich das in der Gemeinde dafür
gesammelte Geld vor allem für den Wiederaufbau des
unversehens eingestürzten Südquerhausgiebels aus-
gegeben werden mußte."51
Die Ergebnisse der jüngeren Restaurierungen an der
Kanzel in Apen, dem Altar und dem Taufdeckel in
Schwei sowie dem Altar und der Chorausstattung in
Rodenkirchen, schließlich die Beobachtungen am Ro-
tenburger Orgelprospekt, an den Kanzeln in Blexen
und Hohenkirchen sowie an dem Altar und dem Tauf-
deckel in Varel belegten, dass unter Neufassungen der
jüngeren Vergangenheit, die bisher als dem Original
entsprechend bezeichnet wurden, nicht polychrome,
unterschiedlich pigmentierte bzw. weitgehend holz-
sichtige Überzüge in Leim- und Öltechnik, partiell mit
farbigen Differenzierungen liegen. Es wurde deutlich,
dass die Bemalungen, die von Wilhelm Siebeis in Tos-
sens, Apen, Eckwarden und Holle sowie Hans Weikert
in Rastede, Schwei (Altar), Berne und Altenesch ohne
Dokumentation realisiert wurden, keinesfalls oder -
im besten Fall (Kurt Bunge an Kanzel und Epitaphen
in Rodenkirchen) - annäherungsweise als „Münster-
mannsche" Fassungen gelten können.
In diesem Zusammenhang vermittelte vor allem die
Abnahme der entstellenden Neufassung von 1959/60
 
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