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Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen

Das nördliche Querhaus war aufgrund fehlenden mit-
telalterlichen Bestands während der ersten Restau-
rierung 1845-54 von Brandes neu ausgemalt worden.
Er hatte sich hier bewusst von dem mittelalterlichen
Malstil abgesetzt und an Vorbildern der italienischen
Renaissance orientiert.248 Diese Neuausmalung bot in
den 1890er Jahren Anlass zur Kritik, da sich die Male-
reien nicht in die sonst mittelalterliche Raumwirkung
einfügten.
Die Apsis wurde von Quensen 1896 nach Entwürfen
des Baurats Pfeifer mit einer neuen Ausmalung verse-
hen, die an die wenigen aufgefundenen Reste der
mittelalterlichen Gestaltung, aber vor allem an einen
typisierenden mittelalterlichen Stil angelehnt war, um
eine einheitliche, harmonische Gesamtwirkung zu
erreichen.
Alle Maßnahmen der 1880er und 90er Jahre zielten
auf die vollständige Wiederherstellung eines mittelal-
terlichen Raumeindrucks, so wie er den zeitgenössi-
schen Vorstellungen entsprach.
Die Wiederherstellung der Ausmalung der Stiftskirche
Königslutter, die ebenfalls unter der Leitung Essen-
weins ausgeführt wurde, folgte ähnlichen Prinzipien
und kombinierte die Restaurierung mittelalterlichen
Malereibestands mit einer historisierenden Neuaus-
malung. Die Maßnahmen im Innenraum erfolgten im
Anschluss an die bauliche Instandsetzung in den
Jahren 1887-94. Der Braunschweiger Baurat Ernst
Wiehe schilderte den Vorzustand folgendermaßen:
„War das Äußere ... im Laufe der Zeit durch
Ausbesserungen und Herstellungsarbeiten nach und
nach in einen vorzüglichen und stylreinen Zustand
versetzt, so zeigte das Innere bis vor wenigen Jahren
die Verfassung, in welche es durch die Vernüchte-
rungen und Entstellungen der letztverflossenen
Jahrhunderte gebracht worden war. Wohl wirkten
wie im Äußeren, so auch hier die vornehmen und
großartigen Verhältnisse: Im Übrigen aber war der
Eindruck denkbar kahl und nüchtern."249
Man plante, die monochrom getünchten Architek-
turoberflächen mit einer Neufassung zu versehen. Bei
Entfernung der Tünche entdeckte man jedoch an den
Wänden mittelalterliche Malereireste, die freigelegt
und in die Neuausmalung integriert werden sollten.
Als ausführender Maler kam Adolf Quensen zum
Einsatz, der nach dem Tode Essenweins 1892 die
gestalterische Leitung auf Grundlage der Entwürfe
Essenweins weiterführte.250
Die Reste der mittelalterlichen Ausmalung waren
offenbar spärlich, bildeten aber für Essenwein die
Grundlage, um den mittelalterlichen Malereizyklus zu
rekonstruieren.251 Nur ein Teil der Malerei Essenweins
geht auf mittelalterlichen Befund zurück, wozu die
Ausmalung der Chorapsis zählt. Für die übrigen
Wandflächen entwickelte er ein Bildprogramm, das
auf der Ausmalung zahlreicher romanischer Kirchen
basiert und fundierte ikonografische und stilistische

Kenntnisse aufzeigt. Seine Untersuchungen in
Königslutter ergaben, dass die Reste der reichen mit-
telalterlichen figürlichen Ausmalung „gerade an den
hervorragendsten Stellen des Bauwerkes sich fanden,
die Tüncherarbeiten aber an den untergeordneten"
und führten zu der Schlussfolgerung, „daß in Königs-
lutter eine Steigerung des Farbeneffectes stattgefun-
den haben muß, dessen untere und obere Grenzen
durch die gefundenen Reste bestimmt sind."252
In dieser Weise plante Essenwein auch die Neuausma-
lung, deren ikonografisches Programm eine Steige-
rung in Bedeutung und Farbigkeit von Westen nach
Osten vorsah und ihren Höhepunkt in Querhaus und
Chor mit den Darstellungen des himmlischen Jeru-
salems und einer Majestasdarstellung fand. Im Chor
konnte die mittelalterliche Ausmalung nach Essen-
wein „fast ganz" 253 wieder freigelegt werden. Bei
Untersuchungen in den 1990er Jahren wurde festge-
stellt, dass die Apsisdarstellung in weiten Teilen auf
mittelalterliche Befunde zurück geht und von Quen-
sen ,stilgetreu' übermalt worden ist, während die
Farbgebung in Lang- und Querhaus wohl hauptsäch-
lich an die mittelalterliche Farbgebung angelehnt
ist.254
Die historisierende Neuausmalung durch Essenwein
und Quensen orientierte sich eng an romanischen
Vorbildern und erstrebte die vollständige Wiederher-
stellung der ursprünglichen Gestaltung. Sie brachte
den ursprünglichen Malereiresten aber nur insofern
Wertschätzung entgegen, als sie Ausgangspunkt und
Inspiration für eine Neugestaltung boten. Statt sie im
vorgefundenen Zustand zu erhalten und ihnen die
übrige Wand- und Gewölbegestaltung zu Grunde zu
legen, ging man genau entgegengesetzt vor und
band die originalen Fragmente inhaltlich in die
Neuausmalung ein, übermalte sie aber vollständig mit
dem Ziel einer Anpassung an die eigene Gestaltung.
Neben den Überlegungen zu einem passenden und
harmonischen Bildprogramm legte Essenwein großen
Wert auf die Wiederherstellung der Einheit von
Architektur und Malerei. Dafür war auch die orna-
mentale Malerei mit gemalten Quadern, Fugen-
strichen und Friesen wichtig. So wurde die Architek-
turgliederung betont und weitergeführt.255
Weitere Arbeiten August von Essenweins verdeutli-
chen sein Streben nach Wiederherstellung des ur-
sprünglichen Erscheinungsbilds, allerdings im Sinne
einer idealisierten Vorstellung. Diese purifizierende
Herangehensweise kommt auch bei der Restaurie-
rung der Nürnberger Frauenkirche 1879-81 zum Aus-
druck. Essenwein verfolgte das Ziel, die ursprüngliche
Raumwirkung wiederherzustellen und ging noch wei-
ter, indem er Korrekturen und Ergänzungen vornahm.
Er folgte mit seinen Maßnahmen einem Gesamtpro-
gramm, in das Architektur, Ausmalung, Einrichtung
und Glasmalerei einbezogen waren. Alle Komponen-
ten wurden stilistisch, farblich und ikonografisch auf-
 
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