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Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen
Reproduktion der ikonographischen und künstleri-
schen Aussage. Dabei orientierte man sich häufig
ganz allgemein an Stilformen und Bildprogrammen
des Mittelalters, die aber weder phänomenologisch
noch zeitlich präzise abgegrenzt waren.269 So erschien
die Restaurierung der Apsisausmalung im Braun-
schweiger Dom unproblematisch, weil das mittelalter-
liche Bildprogramm bekannt war, auch wenn die
ursprüngliche Malerei weitgehend zerstört war.
Aufgrund mangelnder Befunde auf die Wiederher-
stellung zu verzichten oder fragmentarische Ausma-
lungen zu präsentieren war nicht vorstellbar.
Aus heutiger Sicht fortschrittlich war die Restau-
rierung der Wandmalereien in der Frankenberger
Kirche in Goslar 1879/80, weil hier die Übermalungen
des mittelalterlichen Bestands zurückhaltender ausfie-
len. In der abgeschwächten Farbigkeit, die sich vor
allem gegenüber der historisierenden Neuausmalung
bemerkbar macht, zeigen sich erste Anzeichen des
Respekts gegenüber dem gealterten und reduzierten
Bestand.
August von Essenwein äußerte sich 1879 kritisch über
die gewöhnlichen Restaurierungsmethoden und
widersprach damit seinen eigenen, teilweise später
ausgeführten Maßnahmen:
„Am wünschenswerthesten würde es jedenfalls sein,
wenn die Möglichkeit gegeben wäre, alles zu Tage
Tretende [I] ohne jede Nachhilfe zu belassen, wie es
zum Vorschein kommt. Es ist leider bis jetzt nie mög-
lich gewesen, alte Wandmalereien in ähnlicher Weise
zu restauriren [!], wie dies bei Tafelgemälden der Fall
ist. Bis jetzt ist jede ähnliche Restauration auf nichts
anderes herausgekommen als auf eine mehr oder
minder geschickte Übermalung mit Benützung der
alten Konturen als Grundlage und Anwendung sol-
cher Farbtöne, wie man sie eben auf Grund der
schwachen Reste ursprünglich vorhanden glaubte.
Selbst bei den sorgfältigst ausgeführten und gelun-
gensten solcher Restaurationen sind Kopien an Stelle
der Originale getreten, Kopien, deren Richtigkeit nicht
mehr überprüft werden kann, weil die Originale nicht
mehr vorhanden sind."270
In Essenweins Worten ist ein deutliches Bewusstsein
über den Umfang der Eingriffe in die Originalsubstanz
durch die Restaurierungen erkennbar. Es ist anzuneh-
men, dass er in der rekonstruierenden Nachschöpfung
nur eine Notlösung sah. Der Widerspruch zwischen
seiner theoretischen Ausführung und seinen prakti-
schen Restaurierungen deutet darauf hin, dass
bestimmte Faktoren die Beschränkung auf Erhal-
tungsmaßnahmen nicht zuließen und dass Essenwein
keine Möglichkeiten sah, seine Idealvorstellungen
umzusetzen. Die Erhaltung von Wandmalereien in
ihrem freigelegten Zustand ließ sich offenkundig nicht
mit der zeitgenössischen Vorstellung eines mittelalter-
lichen Kirchenraums vereinbaren.
Seiner Überzeugung entsprechend verfuhr Essenwein
mit den gotischen Malereifragmenten, die er in der
Kapelle des Untergeschosses im Westbau der
Stiftskirche in Königslutter freilegen ließ. Im Zuge der
Restaurierungsmaßnahmen im Innenraum 1887-89
beließ er diese ohne jegliche Überarbeitung.27' Eine
Erklärung für das gewählte Vorgehen bietet der
untergeordnete Stellenwert dieses Gebäudeteils im
Hinblick auf die liturgische Nutzung und die Gesamt-
wirkung des Kirchenraums.
Scharfe Kritik an stilvereinheitlichenden Wiederher-
stellungen setzte - von Einzelnen geäußert - noch zu
ihrer Blütezeit ein und machte deutlich, dass entge-
gen der verbreiteten Praxis in der Theorie bereits
andere Idealvorstellungen herrschten. Noch als bloße
Feststellung einer Tatsache klingt der nachteilige
Effekt durch Restaurierungsmaßnahmen in der Ge-
schichte der Malerei bei Woltmann 1879: „Wo man
heute die Tünche entfernt, findet man die Spuren der
alten Bilder, die dann freilich verwittert und verblaßt
sind und deren Herstellung immer eine Trübung ihres
eigentlichen Charakters wird."272
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand aus dem
Streben nach Wiederherstellung eine Gegenbewe-
gung. Vor allem Historiker und Kunsthistoriker stellten
fest, dass durch die bestehende Art der Restaurierung
Kunstwerke ihre Ursprünglichkeit eingebüßt und
damit an Wert verloren hatten. Der Architekt und
Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt resümierte 1921:
„Zu Ende des 19. Jahrhunderts setzte der Wider-
spruch gegen diese Kunst ein. In Deutschland mit
dem ersten Denkmalpflegetag in Dresden, in Frank-
reich durch den Verein ,Amis des monuments', in
England durch die ,Society for protection of ancient
buildings'. Überall erscholl der Ruf: Erhalten, nicht
restaurieren!' Man erkannte, wieviel durch das
Arbeiten an alten Bauten zerstört worden war."273
Zuerst 1885 erschien im „Centralblatt der Bauver-
waltung" ein Artikel des Berliner Konservators und
Oberbaudirektors Spieker.274 Der kurze Aufsatz ist als
Appell an Architekten zu verstehen, nicht mit künstle-
rischen Wertvorstellungen, sondern pietätvoll an ein
Denkmal heranzutreten. Als oberster Grundsatz der
Denkmalpflege habe zu gelten „so weit wie nur
irgend möglich zu erhalten und nur da wiederherzu-
stellen oder zu erneuern, wo dies aus zwingenden, in
jedem Einzelfalle sorgfältig abzuwägenden Gründen
unerläßlich erscheint."275 Spieker prangerte die Stil-
reinheitsbestrebungen vieler Architekten an und gab
zu bedenken, dass die Einheit des Denkmals mit all
seinen historischen Zutaten gewahrt bleiben müsse.
Er ging sogar noch weiter und wies zu diesem frühen
Zeitpunkt darauf hin, dass neben dem historischen
Wert noch ein anderer Wert existiere, mit dem sich
Alois Riegl276 und Georg Dehio277 zu Anfang des
20. Jahrhunderts ausführlicher beschäftigen sollten
(vgl. S. 71 ff.): der Stimmungswert, das gefühlsmäßige
Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen
Reproduktion der ikonographischen und künstleri-
schen Aussage. Dabei orientierte man sich häufig
ganz allgemein an Stilformen und Bildprogrammen
des Mittelalters, die aber weder phänomenologisch
noch zeitlich präzise abgegrenzt waren.269 So erschien
die Restaurierung der Apsisausmalung im Braun-
schweiger Dom unproblematisch, weil das mittelalter-
liche Bildprogramm bekannt war, auch wenn die
ursprüngliche Malerei weitgehend zerstört war.
Aufgrund mangelnder Befunde auf die Wiederher-
stellung zu verzichten oder fragmentarische Ausma-
lungen zu präsentieren war nicht vorstellbar.
Aus heutiger Sicht fortschrittlich war die Restau-
rierung der Wandmalereien in der Frankenberger
Kirche in Goslar 1879/80, weil hier die Übermalungen
des mittelalterlichen Bestands zurückhaltender ausfie-
len. In der abgeschwächten Farbigkeit, die sich vor
allem gegenüber der historisierenden Neuausmalung
bemerkbar macht, zeigen sich erste Anzeichen des
Respekts gegenüber dem gealterten und reduzierten
Bestand.
August von Essenwein äußerte sich 1879 kritisch über
die gewöhnlichen Restaurierungsmethoden und
widersprach damit seinen eigenen, teilweise später
ausgeführten Maßnahmen:
„Am wünschenswerthesten würde es jedenfalls sein,
wenn die Möglichkeit gegeben wäre, alles zu Tage
Tretende [I] ohne jede Nachhilfe zu belassen, wie es
zum Vorschein kommt. Es ist leider bis jetzt nie mög-
lich gewesen, alte Wandmalereien in ähnlicher Weise
zu restauriren [!], wie dies bei Tafelgemälden der Fall
ist. Bis jetzt ist jede ähnliche Restauration auf nichts
anderes herausgekommen als auf eine mehr oder
minder geschickte Übermalung mit Benützung der
alten Konturen als Grundlage und Anwendung sol-
cher Farbtöne, wie man sie eben auf Grund der
schwachen Reste ursprünglich vorhanden glaubte.
Selbst bei den sorgfältigst ausgeführten und gelun-
gensten solcher Restaurationen sind Kopien an Stelle
der Originale getreten, Kopien, deren Richtigkeit nicht
mehr überprüft werden kann, weil die Originale nicht
mehr vorhanden sind."270
In Essenweins Worten ist ein deutliches Bewusstsein
über den Umfang der Eingriffe in die Originalsubstanz
durch die Restaurierungen erkennbar. Es ist anzuneh-
men, dass er in der rekonstruierenden Nachschöpfung
nur eine Notlösung sah. Der Widerspruch zwischen
seiner theoretischen Ausführung und seinen prakti-
schen Restaurierungen deutet darauf hin, dass
bestimmte Faktoren die Beschränkung auf Erhal-
tungsmaßnahmen nicht zuließen und dass Essenwein
keine Möglichkeiten sah, seine Idealvorstellungen
umzusetzen. Die Erhaltung von Wandmalereien in
ihrem freigelegten Zustand ließ sich offenkundig nicht
mit der zeitgenössischen Vorstellung eines mittelalter-
lichen Kirchenraums vereinbaren.
Seiner Überzeugung entsprechend verfuhr Essenwein
mit den gotischen Malereifragmenten, die er in der
Kapelle des Untergeschosses im Westbau der
Stiftskirche in Königslutter freilegen ließ. Im Zuge der
Restaurierungsmaßnahmen im Innenraum 1887-89
beließ er diese ohne jegliche Überarbeitung.27' Eine
Erklärung für das gewählte Vorgehen bietet der
untergeordnete Stellenwert dieses Gebäudeteils im
Hinblick auf die liturgische Nutzung und die Gesamt-
wirkung des Kirchenraums.
Scharfe Kritik an stilvereinheitlichenden Wiederher-
stellungen setzte - von Einzelnen geäußert - noch zu
ihrer Blütezeit ein und machte deutlich, dass entge-
gen der verbreiteten Praxis in der Theorie bereits
andere Idealvorstellungen herrschten. Noch als bloße
Feststellung einer Tatsache klingt der nachteilige
Effekt durch Restaurierungsmaßnahmen in der Ge-
schichte der Malerei bei Woltmann 1879: „Wo man
heute die Tünche entfernt, findet man die Spuren der
alten Bilder, die dann freilich verwittert und verblaßt
sind und deren Herstellung immer eine Trübung ihres
eigentlichen Charakters wird."272
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand aus dem
Streben nach Wiederherstellung eine Gegenbewe-
gung. Vor allem Historiker und Kunsthistoriker stellten
fest, dass durch die bestehende Art der Restaurierung
Kunstwerke ihre Ursprünglichkeit eingebüßt und
damit an Wert verloren hatten. Der Architekt und
Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt resümierte 1921:
„Zu Ende des 19. Jahrhunderts setzte der Wider-
spruch gegen diese Kunst ein. In Deutschland mit
dem ersten Denkmalpflegetag in Dresden, in Frank-
reich durch den Verein ,Amis des monuments', in
England durch die ,Society for protection of ancient
buildings'. Überall erscholl der Ruf: Erhalten, nicht
restaurieren!' Man erkannte, wieviel durch das
Arbeiten an alten Bauten zerstört worden war."273
Zuerst 1885 erschien im „Centralblatt der Bauver-
waltung" ein Artikel des Berliner Konservators und
Oberbaudirektors Spieker.274 Der kurze Aufsatz ist als
Appell an Architekten zu verstehen, nicht mit künstle-
rischen Wertvorstellungen, sondern pietätvoll an ein
Denkmal heranzutreten. Als oberster Grundsatz der
Denkmalpflege habe zu gelten „so weit wie nur
irgend möglich zu erhalten und nur da wiederherzu-
stellen oder zu erneuern, wo dies aus zwingenden, in
jedem Einzelfalle sorgfältig abzuwägenden Gründen
unerläßlich erscheint."275 Spieker prangerte die Stil-
reinheitsbestrebungen vieler Architekten an und gab
zu bedenken, dass die Einheit des Denkmals mit all
seinen historischen Zutaten gewahrt bleiben müsse.
Er ging sogar noch weiter und wies zu diesem frühen
Zeitpunkt darauf hin, dass neben dem historischen
Wert noch ein anderer Wert existiere, mit dem sich
Alois Riegl276 und Georg Dehio277 zu Anfang des
20. Jahrhunderts ausführlicher beschäftigen sollten
(vgl. S. 71 ff.): der Stimmungswert, das gefühlsmäßige