91
Zusammenfassung
Die Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Wand-
malereien stellt sich als komplexer Zusammenhang
dar. Restaurierungen interpretieren Kunstwerke nach
dem jeweils geltenden Zeitgeschmack. Dieser ist
abhängig von vielen Komponenten, von denen in die-
sem Zusammenhang besonders das Werteverständnis
herausgestellt werden muss. Nachdem die historisti-
schen Restaurierungen des 19. Jahrhunderts, die
gleichbedeutend mit gravierenden Überformungen
des mittelalterlichen Bestands im Sinne rezipierter
Mittelaltervorstellungen waren, zu einem empfunde-
nen Verlust kultureller Identität geführt hatten, waren
die Voraussetzungen für einen denkmalpflegerischen
Umbruch geschaffen. Um 1900 setzte eine Sensibili-
sierung im Hinblick auf den Umgang mit Kulturdenk-
malen verbunden mit einer Verschiebung des Werte-
verständnisses ein. Die zunächst von Kunsthistorikern
und Historikern geäußerte Kritik an den bestehenden
Restaurierungsgepflogenheiten gründete auf einem
umfassenden Geschichtsverständnis, das die Aner-
kennung und Erhaltung des historisch gewachsenen
Zustands eines Denkmals erforderte. Der historische
Wert erlangte damit eine große Bedeutung, besaß
aber nicht alleinige Gültigkeit. Für Denkmalnutzer
und Denkmaleigner, für Fachleute und Öffentlichkeit
standen unter Umständen andere Faktoren im Vor-
dergrund. Bezüglich mittelalterlicher Wandmalereien
konnte es sich hierbei um die künstlerische Aussage,
die. ikonografischen Inhalte, die Vollständigkeit und
Ablesbarkeit der Darstellungen oder den dekorativen
Charakter und Schauwert einer Malerei handeln. Die
von progressiven Denkmalpflegern und Kunsthistori-
kern angestrebte Objektivierbarkeit denkmalpflegeri-
scher Maßnahmen stieß hier auf subjektive Empfin-
dungen, die ebenfalls ihre Berechtigung hatten.
Durch die unterschiedlichen Vorstellungen, was den
Wert einer mittelalterlichen Wandmalerei ausmachte,
standen die denkmalpflegerischen und restauratori-
schen Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen Er-
haltung der historischen Substanz und (Wieder-) Her-
stellung eines historischen Zustands oder eines be-
stimmten Charakters der Malerei. Restaurierung be-
deutete immer die Suche nach Kompromissen zwi-
schen den Extremen und sie war auch 1939 noch
nicht abgeschlossen.
Die umfassende Aufarbeitung der Geschichte von
Denkmalpflege und Restaurierung mittelalterlicher
Wandmalereien in Niedersachsen über einen Zeitraum
von vierzig Jahren macht es möglich, die unterschied-
lichen restauratorischen Auffassungen und ihre prak-
tische Umsetzung zu erkennen, zu benennen und
darüber hinaus die Vermischungen einzelner Ansätze
zu definieren. Die Einbeziehung der beteiligten
Personen und Institutionen beleuchtet die denkmal-
pflegerischen Maßnahmen in einem größeren Kon-
text, wodurch erstmals menschliche Beweggründe
und unterschiedlich geartete Zielsetzungen von
Restaurierungen betrachtet werden.
Der Rückblick in das 19. Jahrhundert erwies sich als
sinnvoll, weil hier der Ursprung der Begeisterung für
die mittelalterliche Kunst liegt. Er verdeutlicht, dass
viele der damals üblichen restauratorischen Gepflo-
genheiten auch Anfang des 20. Jahrhunderts noch
Gültigkeit besaßen und folglich über einen langen
Zeitraum tradiert wurden. Anhand dieser Zeitspanne
und der Kenntnis über den Umfang der Überarbeitun-
gen lässt sich ablesen, wie groß der theoretisch seit
1900 und praktisch seit den 1920er Jahren einsetzen-
de Schritt in Richtung zurückhaltender Restaurie-
rungsmaßnahmen war. Der exemplarische Vergleich
der niedersächsischen Restaurierungen mit denen
anderer Regionen erbrachte ähnliche Tendenzen und
Entwicklungen, teilweise jedoch zeitverzögert. Insge-
samt lässt sich feststellen, dass denkmalpflegerische
und restauratorische Entwicklungen in den verschie-
denen Ländern und Provinzen Preußens und Bayerns
in dieselbe Richtung strebten. Je nach Einfluss der
Denkmalpflege, Fähigkeiten der Restauratoren und
Erwartungen der Denkmaleigentümer wurde tradiert,
konzipiert oder experimentiert.
An Restaurierungen zwischen 1900 und 1939 in
Niedersachsen können zwei grundlegende Feststel-
lungen geknüpft werden: Aufgrund denkmalpflegeri-
scher Entwicklungen, Sensibilisierung der Öffentlich-
keit und Kompromissfindung veränderte sich die Res-
taurierungsmethodik. Die anfänglich gängige Praxis
umfangreicher, größtenteils deckender Übermalun-
gen und Rekonstruktionen, die eine möglichst große
Annäherung an einen hypothetischen ursprünglichen,
lückenlosen Malereibestand zum Ziel hatte, wandelte
sich in zurückhaltendere, lasierende Übermalungen
und Ergänzungen mit dem Versuch, den mittelalterli-
chen Malereibestand mit seinen Alterungsspuren und
Verlusten zu erhalten und ihn dennoch optisch zu
schließen. Da sich diese Entwicklung aber nicht aus-
nahmslos chronologisch ablesen lässt, gewann die
diesbezügliche Ursachenforschung an Bedeutung. Im
Verlauf der Arbeit stellte sich heraus, dass einflussrei-
cher als die technologischen Fortschritte die zeitge-
nössische Auffassung von Restaurierung und die dar-
aus resultierenden unterschiedlichen Wünsche und
Erwartungen seitens der verschiedenen Beteiligten
waren. Die Restaurierungen stellen sich als komplexe
Abläufe dar, in denen nicht so sehr Restaurierungs-
methoden, sondern vor allem Restaurierungsziele dis-
kutiert wurden, denen sehr unterschiedliche Wertvor-
stellungen zugrunde lagen. Vertreter dieser verschie-
denen Interessen waren vornehmlich Kirchenge-
Zusammenfassung
Die Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Wand-
malereien stellt sich als komplexer Zusammenhang
dar. Restaurierungen interpretieren Kunstwerke nach
dem jeweils geltenden Zeitgeschmack. Dieser ist
abhängig von vielen Komponenten, von denen in die-
sem Zusammenhang besonders das Werteverständnis
herausgestellt werden muss. Nachdem die historisti-
schen Restaurierungen des 19. Jahrhunderts, die
gleichbedeutend mit gravierenden Überformungen
des mittelalterlichen Bestands im Sinne rezipierter
Mittelaltervorstellungen waren, zu einem empfunde-
nen Verlust kultureller Identität geführt hatten, waren
die Voraussetzungen für einen denkmalpflegerischen
Umbruch geschaffen. Um 1900 setzte eine Sensibili-
sierung im Hinblick auf den Umgang mit Kulturdenk-
malen verbunden mit einer Verschiebung des Werte-
verständnisses ein. Die zunächst von Kunsthistorikern
und Historikern geäußerte Kritik an den bestehenden
Restaurierungsgepflogenheiten gründete auf einem
umfassenden Geschichtsverständnis, das die Aner-
kennung und Erhaltung des historisch gewachsenen
Zustands eines Denkmals erforderte. Der historische
Wert erlangte damit eine große Bedeutung, besaß
aber nicht alleinige Gültigkeit. Für Denkmalnutzer
und Denkmaleigner, für Fachleute und Öffentlichkeit
standen unter Umständen andere Faktoren im Vor-
dergrund. Bezüglich mittelalterlicher Wandmalereien
konnte es sich hierbei um die künstlerische Aussage,
die. ikonografischen Inhalte, die Vollständigkeit und
Ablesbarkeit der Darstellungen oder den dekorativen
Charakter und Schauwert einer Malerei handeln. Die
von progressiven Denkmalpflegern und Kunsthistori-
kern angestrebte Objektivierbarkeit denkmalpflegeri-
scher Maßnahmen stieß hier auf subjektive Empfin-
dungen, die ebenfalls ihre Berechtigung hatten.
Durch die unterschiedlichen Vorstellungen, was den
Wert einer mittelalterlichen Wandmalerei ausmachte,
standen die denkmalpflegerischen und restauratori-
schen Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen Er-
haltung der historischen Substanz und (Wieder-) Her-
stellung eines historischen Zustands oder eines be-
stimmten Charakters der Malerei. Restaurierung be-
deutete immer die Suche nach Kompromissen zwi-
schen den Extremen und sie war auch 1939 noch
nicht abgeschlossen.
Die umfassende Aufarbeitung der Geschichte von
Denkmalpflege und Restaurierung mittelalterlicher
Wandmalereien in Niedersachsen über einen Zeitraum
von vierzig Jahren macht es möglich, die unterschied-
lichen restauratorischen Auffassungen und ihre prak-
tische Umsetzung zu erkennen, zu benennen und
darüber hinaus die Vermischungen einzelner Ansätze
zu definieren. Die Einbeziehung der beteiligten
Personen und Institutionen beleuchtet die denkmal-
pflegerischen Maßnahmen in einem größeren Kon-
text, wodurch erstmals menschliche Beweggründe
und unterschiedlich geartete Zielsetzungen von
Restaurierungen betrachtet werden.
Der Rückblick in das 19. Jahrhundert erwies sich als
sinnvoll, weil hier der Ursprung der Begeisterung für
die mittelalterliche Kunst liegt. Er verdeutlicht, dass
viele der damals üblichen restauratorischen Gepflo-
genheiten auch Anfang des 20. Jahrhunderts noch
Gültigkeit besaßen und folglich über einen langen
Zeitraum tradiert wurden. Anhand dieser Zeitspanne
und der Kenntnis über den Umfang der Überarbeitun-
gen lässt sich ablesen, wie groß der theoretisch seit
1900 und praktisch seit den 1920er Jahren einsetzen-
de Schritt in Richtung zurückhaltender Restaurie-
rungsmaßnahmen war. Der exemplarische Vergleich
der niedersächsischen Restaurierungen mit denen
anderer Regionen erbrachte ähnliche Tendenzen und
Entwicklungen, teilweise jedoch zeitverzögert. Insge-
samt lässt sich feststellen, dass denkmalpflegerische
und restauratorische Entwicklungen in den verschie-
denen Ländern und Provinzen Preußens und Bayerns
in dieselbe Richtung strebten. Je nach Einfluss der
Denkmalpflege, Fähigkeiten der Restauratoren und
Erwartungen der Denkmaleigentümer wurde tradiert,
konzipiert oder experimentiert.
An Restaurierungen zwischen 1900 und 1939 in
Niedersachsen können zwei grundlegende Feststel-
lungen geknüpft werden: Aufgrund denkmalpflegeri-
scher Entwicklungen, Sensibilisierung der Öffentlich-
keit und Kompromissfindung veränderte sich die Res-
taurierungsmethodik. Die anfänglich gängige Praxis
umfangreicher, größtenteils deckender Übermalun-
gen und Rekonstruktionen, die eine möglichst große
Annäherung an einen hypothetischen ursprünglichen,
lückenlosen Malereibestand zum Ziel hatte, wandelte
sich in zurückhaltendere, lasierende Übermalungen
und Ergänzungen mit dem Versuch, den mittelalterli-
chen Malereibestand mit seinen Alterungsspuren und
Verlusten zu erhalten und ihn dennoch optisch zu
schließen. Da sich diese Entwicklung aber nicht aus-
nahmslos chronologisch ablesen lässt, gewann die
diesbezügliche Ursachenforschung an Bedeutung. Im
Verlauf der Arbeit stellte sich heraus, dass einflussrei-
cher als die technologischen Fortschritte die zeitge-
nössische Auffassung von Restaurierung und die dar-
aus resultierenden unterschiedlichen Wünsche und
Erwartungen seitens der verschiedenen Beteiligten
waren. Die Restaurierungen stellen sich als komplexe
Abläufe dar, in denen nicht so sehr Restaurierungs-
methoden, sondern vor allem Restaurierungsziele dis-
kutiert wurden, denen sehr unterschiedliche Wertvor-
stellungen zugrunde lagen. Vertreter dieser verschie-
denen Interessen waren vornehmlich Kirchenge-