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Bałus, Wojciech
Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne: zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert — Stuttgart: Steiner, 2003

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https://doi.org/10.11588/diglit.57161#0036
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32

Identitätssuche in der Architektur

ein Reliquiar historischer Denkwürdigkeiten, als Schatzkammer nationalen Erin-
nerungsgutes, als Pantheon oder Walhalla bezeichnet, spielte er eine entschei-
dende Rolle für die Entwicklung eines polnischen Nationalbewußtseins. Mit sei-
nen Mauern, Gräbern und Kunstwerken war er Zeuge einer vergangenen Wirk-
lichkeit - des alten polnischen Königsreiches. Diese Zeugenschaft ließ die Idee
entstehen, ihn innerhalb der herbeigesehnten Wirklichkeit eines wiedergeborenen
unabhängigen polnischen Staates zum Machtzentrum zu erheben. Krakau identifi-
zierte man einfach mit dem Herzen des Polentums, die Stadt war das Wahrzeichen
einer polnischen nationalen Identität.
Keine Domkirche Deutschlands, weder der Kölner Dom noch selbst der zu
Speyer, wecke, so die Worte Essenweins, ein solch großes historisches Interesse
wie der Dom zu Krakau. Der Kölner Dom wie der Dom zu Speyer galten im
19. Jahrhundert als deutsche Nationaldenkmäler. Dennoch hatten sie lange Zeit
hindurch eine mehr oder weniger regionale Bedeutung. Der Begriff der deutschen
Nation war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht eindeutig be-
stimmt, der Kölner Dom galt in erster Linie als eine katholische Kirche und erst in
zweiter als ein deutsches Heiligtum, die Kathedrale in Speyer war zwar kaiserlich,
aber auch bayerisch (König Ludwig I. hatte sie restauriert, nachdem sie Bayern
einverleibt worden war)32.
Ganz anders die Geschicke Krakaus: Stadt und königliche Residenz auf dem
Wawel waren für die Polen aus allen drei Teilungsgebieten der ehemaligen Adels-
republik gleichermaßen bedeutsam. Kein anderer Ort spielte eine vergleichbare
Rolle. So blieben z.B. die ersten polnischen Hauptstädte - Gnesen oder auch
Posen - in der Nation als ganzer wenig bekannt. Trotz aller Grenzen hatten die
Nationalwallfahrten immer wieder Krakau zum Ziel. Auf dem Wawel konnten
sich die Polen österreichischer, preußischer oder russischer Staatsangehörigkeit
ihrer Beziehung zur geistigen Substanz der gemeinsamen Nation bewußt werden,
sie neu für sich entdecken oder bestärken. Die Dichterin Jadwiga Strokowä faßte
das in dem Wunsch zusammen, das Schloß auf dem Wawel möge, wie ein Urahn,
der Polen Geist erwecken: „Du altes Schloß, du grauhaariger Vater! [...] / Erweck’
unseren Geist!“33.

32 BORGER-KEWELOH, Nicola: Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert. München
1986, 37-41.
33 „Stary zamku! Ojcze siwy! [...] / Rozbudzaj nam ducha!“ STROKOWÄ, Jadwiga: Pod
Wawelem [Am Fuße des Wawel]. In: Polski Lud 20 (1891); zit. nach ZIEJKA (wie Anm. 23) 28.
 
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