Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bałus, Wojciech
Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne: zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert — Stuttgart: Steiner, 2003

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.57161#0037
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Entdeckung der „Krakauer Gotik“

Im Krakau des 19. Jahrhunderts suchte man den polnischen Geist nicht nur durch
die Hinwendung zur Geschichte wiederzuerwecken. Die Konstruktion - Erfin-
dung - der eigenen Vergangenheit in der Architektur brachte die Nachahmung von
Formen früherer Epochen, angewendet an neuentstehenden Gebäuden, mit sich.
Zuerst waren das Motive der sogenannten Krakauer Gotik, jener stilistischen
Richtung, der die Kunsthistoriker gewöhnlich kurzerhand Hauptmerkmale polni-
schen Nationalstils beimessen oder sie gar mit dem polnischen Nationalstil als
solchem identifizieren. In Wirklichkeit war diese Problematik allerdings wesent-
lich komplizierter.
Ein abgebrochener Weg zu einer regionalen Schule der Neugotik
In den Jahren 1855-1864 wurde in Rzepiennik Biskupi, einem kleinen, kaum mehr
als 100 km östlich von Krakau gelegenen Dorf, eine Pfarrkirche in Form einer
neugotischen, dreischiffigen Backsteinbasilika mit Querschiff, einem kurzen, po-
lygonal abgeschlossenen Chor und einer Doppelturmfassade errichtet (Abb. 5).
Der Kirchenbau war zum überwiegenden Teil von dem Pfarrer Jozef Ciurkiewicz
gestiftet worden, was die merkwürdige Inschrift aus großen glasierten Ziegeln, die
sich um den ganzen Außenbau zieht, dokumentiert: JOSEPH CIURKIEWICZ
CURATUS ANNO DOMINI MDCCCLVI [!] FUNDAVIT IN CULTUM SANCTISSI-
MI SACRAMENTI ET HONOREM BEATISSIMAE MARIAE VIRGINIS IMMA-
CULATAE COELUM ASSUMPTAE.1
Das reiche Raumprogramm der Kirche in Rzepiennik - mit Langhaus, Quer-
schiff und Chor - entspricht einer Tendenz in der Kirchenbaukunst, die in den
1840er Jahren als Resultat der religiösen, liturgischen und politisch-ästhetischen
Reformbewegung im europäischen Christentum entstand und die praktisch in al-
len Konfessionen gegen die klassizistisch-aufklärerische Unifizienlng des Sakral-
raumes gerichtet war2. Diese neue Form der Kirche erschien zum erstenmal in

1 Czas 175 (1855) If. - Kronika Diecezji Przemyskiej [Kronik der Diözese Przemysl], Pismo
Diecezjalne 5 (1905) 18If. - FEDERKIEWICZ, Jakub: Kapitula przemyska obrz^dku laciriskiego,
czqsc VI/12 [Das Domkapitel des römischen Ritus in Przemysl, VI/12]. In: Kronika Diecezji
Przemyskiej. Pismo Diecezjalne 9 (1909) 680-692, hier 691f. - BALUS, Wojciech: Krakauer
Kirchenbaukunst im 19. Jahrhundert. In: Die sakrale Architektur Krakaus vom vorromanischen
Beginn bis zur Gegenwart. Hg. v. Zofia KOWALSKA, Wien 1993, 105-132, hier 110.
2 MAYER, Anton L.: Liturgie, Romantik und Restauration. In: Jahrbuch für Liturgiewissen-
schaft 10 (1930) 77-141. - GERMANN, Georg: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie.
Stuttgart 1974, 93-151. - WAGNER-RIEGER, Renate: Wiens Architektur im 19. Jahrhundert.
Wien 1970, 15 und 160. - MUTHESIUS, Stefan: Das englische Vorbild. Eine Studie zu den deut-
schen Reformbewegungen in Architektur, Wohnbau und Kunstgewerbe im späteren 19. Jahrhun-
dert. München 1974 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts 26), 17-20 und 25f. - LEYEN-
DECKER, Angelika: Der Kölner Dom und die Sakralarchitektur des 19. Jahrhunders. In: Der
 
Annotationen