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Bałus, Wojciech
Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne: zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert — Stuttgart: Steiner, 2003

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https://doi.org/10.11588/diglit.57161#0062
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Identitätssuche in der Architektur

entfernte Baugestaltung ermöglichte. In der deutschen Renaissance konnten die
Architekten „auf den geschlossenen Baukörper verzichten“ und die Fassaden
„ohne Rücksicht auf Achsen und Ordnungen“ beliebig gruppieren4. In späteren
Werken kamen zu den weiterhin vorhandenen Anklängen an die deutsche Renais-
sance auch Zitate aus der mittelalterlichen Wohn- und Befestigungsarchitektur
hinzu, daneben auch Krakauer Motive, wie etwa Fragmente der Renaissance-Atti-
ka der Tuchhallen (Abb. 41, 51). An einigen Fassaden sind auch Elemente klassi-
scher Säulenordnungen erkennbar, deren Anbringung jedoch zumeist unlogisch
und fragmentarisch erscheint (Abb. I, 48, 52). Die unverputzten Außenmauem der
Wohnhäuser wurden aus patinierten, bewußt „auf alt“ stilisierten Ziegeln errichtet
(Abb. I). Talowski interessierte die Innenaufteilung der Häuser weniger - die
Grundrisse sind auffallend konservativ (z.B. seine Enfiladen oder appartements
double - immer ohne Korridor). Der ganze Charme seiner Werke steckt in den
Fassaden. Diese sind mit Erkern und Reliefs verziert (Abb. 49), tragen meist latei-
nische Inschriften (z.B. FESTINA LENTE, FABER EST SUAE QUISQUE FORTU-
NAE [Abb. 49]; SI DEUS NOBISCUM QUIS CONTRA NOS [Abb. 54]; ARS
LONGA - VITA BREVIS [Abb. I, 48] u.a.m.) sowie kleine Tafeln oder Kartuschen
mit der Signatur des Architekten, diese oft auch in lateinischer Sprache (FECIT
THEODORUS TALOWSKI oder FECIT THEODORUS TALOWSKI ARCHITECTUS
[Abb. 50]). Die Komposition der Fassaden ist oft asymmetrisch, wirkt zufällig
oder wie aus mehreren Bauphasen hervorgegangen. Gemäß einer Idee von Jean-
Nicolas-Louis Durand und John Claudius Loudon sind die Häuser von Weinran-
ken umrankt5, deren Stämme der Architekt mit Hilfe von Vertiefungen an den
Mauern emporwachsen ließ. Das Ganze vermittelt den Eindruck von Unerwarte-
tem, Geheimnisvollem und ist von einer Ausdruckskraft, die mit Unruhe erfüllt.
Die Lektüre der Bauwerke Talowskis
Die Fassaden der Talowski-Häuser verlangen eine bestimmte Lesart. Man kann an
ihnen nicht nur die Inschriften, sondern auch die Geschichten der einzelnen Häu-
ser ablesen. Läßt man den Blick über die Geschosse gleiten, so entdeckt man stili-
stisch frühere und spätere Elemente - wie etwa mittelalterliche Zinnen und
Wehrtürmchen, ein der Renaissance-Attika der Krakauer Tuchhallen nachemp-
fundenes Fragment oder auch einen im Stil der deutschen Renaissance gehaltenen
Giebel an dem Haus „Zur Spinne“ (Karmelicka-, Ecke Batory-Straße, 1889/90;

4 DOLGNER, Dieter: Die nationale Variante der Neurenaissance in der deutschen Architektur
des 19. Jahrhunderts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bau-
wesen Weimar 20/2 (1973) 155-166, hier 159f. - Zur allgemeinen Charakterisierung der Wohn-
architektur Talowskis BEIERSDORF (wie Anm. 3). - BALUS (wie Anm. 3) 120-124.
5 DURAND, Jean-Nicolas-Louis: Precis des le^ons d’architecture donnes ä l’Ecole polytech-
nique. Bd. 1, Paris 1802, 65. - ALTHAUS, Christoph: Überlegungen zum Verhältnis von Fassa-
denbegrünung und Denkmalpflege. In: Historische Gärten. Mitteilungsblatt der Österreichischen
Gesellschaft für historische Gärten 2 (1996), Abb. 7 und 9.
 
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