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Bałus, Wojciech
Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne: zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert — Stuttgart: Steiner, 2003

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https://doi.org/10.11588/diglit.57161#0073
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„Fecit Theodoras Talowski Architectus“

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das ganze Gebäude gehend, da stünde“47. Talowski verzichtet jedoch nicht auf
bestimmte Teile einer Säulenordnung, wie die Säulen bzw. Pilaster, sondern
destruiert den Kem der klassischen Architektursprache, deren Äußerung die fünf
Ordnungen waren. Auf diese Weise wird das Prinzip der Sichtbarmachung von
Bautektonik, das sonst zur Veranschaulichung der Solidität des Gebäudes diente,
negiert. Talowskis Häuser erzeugen dadurch den Eindruck zufälliger, umgebauter
oder ruinierter Kompositionen. So erinnert z.B. das Haus „Festina Lente“
(Abb. 48) ein wenig an die Ruinen des antiken Kastortempels bei Cora aus dem
Stich Piranesis (Abb. 60), auf dem an die antike Kolonnade mit beschriftetem
Gebälk in späterer Zeit die Mauer eines Wohnhauses angebaut worden ist. Dies ist
das endgültige Ende des seit Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich dahinsterben-
den Vitruvianismus48, denn hier wird das bis dahin gültige Wesen von Architek-
turhaftigkeit: die Vorstellung von den tektonischen Grundlagen des Bauens, für
nichtig erklärt.
Eine neue Architektur kann aber nicht einfach auf der Negierung der voran-
gegangenen Merkmale aufbauen. Während Talowski den Vitruvianismus dekon-
struierte, schlug er keine neue Definition von Architektur vor: Er schloß sich nicht
dem Jugendstil an, er versuchte nicht - wie etwa Antonio Gaudi mit der Kon-
struktion zu experimentieren. Vielmehr ersetzte er das alte System durch Literari-
sierung: Anstatt den Fassaden seiner Häuser den Eindruck von firmitas zu verlei-
hen, ließ er sie einfach erzählen.
Die Krakauer Wohnhäuser Teodor Talowskis schließen eher eine alte Epoche
ab, als daß sie eine neue eröffneten. Der Architekt unternahm es nicht, in seinen
Werken neue Formen anzuwenden. Er war hingegen ein genialer Saboteur. Er
schuf, scheinbar im Einklang mit den Grundlagen des Historismus, Werke, die mit
ihrer Anlehnung an die Vergangenheit die Identität des zeitgenössischen Krakau
legitimierten und die doch zugleich mit umstürzlerischem Inhalt aufgeladen wa-
ren. Denn mit seinem virtuosen Spiel mit der Geschichte wie auch mit der Dekon-
struktion des Vitruvianismus oder schließlich auch mit seinem - einmal ernsthaf-
ten, ein andermal humoristischen - ikonographischen Programm führte er das
damalige Architekturverständnis bis an dessen Grenzen. Mit alledem negierte er
die Normen und Prinzipien, die bis dahin verpflichtend gegolten hatten. Da als
Gegenleistung keine neuen Lösungen vorgeschlagen wurden, zeigen diese Werke
nur, daß das, was alt war - in diesem Fall der Historismus mit all seinen Implika-
tionen - seinen Wert verloren hatte und sich immer mehr in leere Form verwan-
delte. Das war der Anfang einer Epochenwende.

47 Zit. nach ebd., 15.
48 FORSSMAN (wie Anm. 40) 112-118. - GERMANN (wie Anm. 39) 195-263.
 
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