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jetzt ſo allein fand. Der verdroffene Ausdruck ihres
Geſichtes, den dieſes beim Erwachen gezeigt, ver-
ringerte ſich ſogar, nachdem ſie, merkwürdig mühſam,
ſich jene Kberzeugung zu eigen gemacht hatte.
wird draußen im Korridor ſein, um zu rauchen,“
dachte ſie und gab ſich damit zufrieden. Nur war
ihr der ſchwere Duft, welcher das Abteil erfüllte,
noch unangenehmer als der Duft der Zigarren,
welche ihr Bräutigam — doch nein, jetzt war er ja
ihr Mann — ſonſt zu rauchen pflegte.

„Mein Mann“ — mit dieſem Gedanken ſchlief
ſie wieder ein. Jetzt waren ihre Mundwinkel wie-
der herabgezogen, und zwiſchen ihren feingezeichneten
Augenbrauen zeigte ſich wieder eine leichte Falte.

Schon im Einſchlafen drückte ſie, wie um einen
Schmerz zu erſticken, die Hände gegen ihre Schläfen.
Die zu Boden gefallene Decke aufzuheben und ſich
wieder in ſie zu hüllen, daran hatte ſie in ihrer
Schlaftrunkenheit nicht gedacht.

Wieder regte ſich eine gute Weile nichts in dem
reſervierten Abteil erſter Klaſſe. Da raſſelte plötz-
lich deſſen Mittelfenſter bei einer ſtarken Kurve, über
welche der Zug dahinraſte, nieder. Das Gepolter
und der kalte Luftzug, welcher eindrang, ſcheuch-
ten zum zweiten Male die junge Frau aus dem
Schlafe auf.

Es hatte ſie ſchon früher gefröſtelt, dafür ſprach
der Umſtand, daß ſie ſich ganz in ſich zuſammen!
gekauert hatte. Jetzt fror ſie ernſtlich.

Zudem mar fie arg erſchrocken.

Mit einem Ruck emporfahrend, ſchaute ſie ver-
wirrt um ſich.

„Jan,“ rief ſie laut und ängſtlich „Jan!“

Es antwortete ihr niemand. Sie war noch
immer allein.

Sie hatte auch noch immer Kopfweh.

Abex die bleierne Müdigkeit, die auf ihr gelaſtet,
die wich jetzt doch von ihr.

Mit einem tiefen Atemzug die kalte, reine Luft
einatmend, erhob ſie ſich und ſchlug die Vorhänge
von der Deckenlampe zurück, ſtreckte und dehnte ſich,
hob ihre Reiſedecke auf und ſchloß das Fenſter.

Dann ſchob ſie die Tür zuͤrück und ſchaute auf
den Korridor hinaus.

Sie hatte als ganz ſicher angenommen, daß ihr
Mann da draußen ſtehe, doch dem war nicht fo.

Jetzt wuxde ihr ſchon ein wenig bang. Schüch-
tern ging ſie von einem Abteil zum anderen und
ſpähte hinein.

Sie waren bis auf eines leer. In dieſer einen
Abteilung ſaß eine alte Frau und ſchlief.

Die junge Dame war jetzt ſchon recht aufgeregt.
Sie wartete noch einige Augenblicke, dann klopfte
ſie an den Waſchraum, der ſich am Kopf des Wa-
gens befand, aber auch dieſer war leer. Jetzt hatte
die ſo angſtvoll Suchende nur noch die Hoffnung,
daß ihr Mann vielleicht am abbiegenden zweiten
Ende des Korridors ſich befinde, denn daß er den
Wagen getauſcht habe, mar ſo gut wie ausgeſchloſſen.
Wozu hätte er das wohl getan?

Nein, nein, er mußte ſich am anderen Ende des
Korridars befinden. Feſt — ganz feſt nahm die
junge Frau dies an, und dennoch ging ſie mit wan-
kenden Knieen durch den Wagen und ſpähte, an
der Ecke angekommen, voll Soͤrge in dieſen letzten
bislang noch undurchſucht gebliebenen Winkel.

Auch der war leer.

Die Arme wurde blaß, und jetzt zitterte ſie ſo ſehr,
daß ſie ſich an die Schußftange des nächſten Fen-
ſters klampiern mußte, um ſich aufrecht erhalten zu
können. Ein winziger Gegeuſtand, welcher ihr vom
Boden da unten entgegenblinkte, hatte ihre Angſt ſo
geſteigert.

Dort lag, ganz nahe der Tür, ihres Mannes
goldener Zwicker, deſſen ebenfalls goldene Venezianer-
kette abgeriſſen war.

Die junge Frau ſtarrte beſtürzt darauf hin. Und
dann ſtieß ſie plötzlich einen gellenden Schrei aus.

Die Tür hatte ſich leiſe knarrend geöffnet und
ſchlug dann, der Bewegung des Wagens folgend,
wieder zu. Und wieder und immer wieder führte
ſie mit dem Anſchein eines grauenhaften Belebtfeins
dieſe beiden Bewegungen vor den Augen der ent-
ſetzensſtarren ran aus.

Vielleicht eine Minute lang, vielleicht viel länger
brauchte jene, bis ſie wieder Macht über ihren Kör-
per gewann.

Sie eilte zu ihrem Abteil, wobei ſie wie aus
weiter Ferne den grauen Kopf, das erſchrockene Ge-
ſicht ihrex einzigen Mitreiſenden ſah, ſie hörte auch
eine angſtvolle Frage, aber ſie achtete nicht darauf.

Mit zitternder Hand machte ſie von dem Alarm-
ſignal Eebrauch, dann ſank ſie halb ohnmächtig auf
ihren Sitz

Eine Minnte ſpäter hielt der Zug auf offener
Strecke, die Schaffner liefen mit ihrem Laternen an
den Wagen hin, die wenigen Paſſagiere ſtreckten be-
ſorgt die Köpfe aus den raſch geöffneten Fenſtern,


— 2—

und man hörte unruhige Fragen und die beruhigen-
den Antworten des Zugperſonals.

Dex Zugführer aber und der Schaffner des be-
treffenden Wagens ſtanden ſchon vor der bleichen
jungen Frau und hörten ihren verworrenen Bericht.

Dann beratſchlagten ſie, was zunächſt zu tun ſei.


Zug ſo lange halten zu laſſen, bis zwei der Schaffner
den Viadukt begangen haben würden, konnte der
Zugführer verantworten. Er gab alſo ſeine dies-
bezüglichen Weiſungen.

Nach wenigen Minuten kehrten die Männer
zurück. Sie hatten nichts Abſonderliches wahrgenom-
men. Es blieb nichts übrig, als bis zur nächſten
Station zu fahren. Dies war Kromau.

Mit größter Fahrgeſchwindigkeit wurde die kurze
Strecke zurückgelegt.

Der Zugführer mar bei der jungen Frau geblie-
ben, die, zuweilen zuſammenſchauernd, auf den gol-
denen Zwicker ſtarrte, den der Schaffner ihr auf
den Schoß gelegt hatte.

Jetzt war jener auf einen Wink des Zugführers
hin damit beſchäftigt, das Gepäck der Dame und
ihres verſchwundenen Gatten zuſammenzulegen.

Die junge Frau zuckte plötzlich zuſammen. Ihre
Hand hatte ſich in der Taſche ihres Kleides ver-
loren. Sie zog ein weißes Tuch heraus. Aber in
der Taſche war noch etwas anderes, ein Stück Pa-
pier, das mehrmals zuſammengefaltet war Bei der
haſtigen Bewegung der nervös zitternden Hand fiel
es zu Boden.

Schnell bückte ſich die Frau danach, hob es auf
und zerriß es zu kleinen Stückchen, die ſie in der
feſtgeſchloſſenen Fauſt behielt.

Mit der Linken wiſchte ſie ſich über das bleiche
Geſicht. Sie atmete ſchwer, man merkte es ihr
an, daß ihr recht übel war.

„Soll ich das Fenſter öffnen?“ fragte der Zug-
führer. Es war ſehr heiß geworden im Abteil.

Die Dame nickte. Er ließ das Fenſter nieder.
44 reine Luft, die hereinkam, tat auch ihm
wohl.

Der Schaffner trug das Gepäck zur Ausgangs-
tür. Sein Kollege ſchaute ihm nach. Als er ſich
wieder der Dame zuwendete, zog dieſe ſoeben den
Arm vom Fenſter zurück. Es war ihr rechter Arm,
und deſſen Hand war jetzt nicht mehr geballt, ſie
enthielt auch nichts mehr. Sie lag offen im Schoß
der jungen Frau, die mit geſchloſſenen Augen in
ihrer Ecke lehnte.

Der Mann ſchüttelte den Kopf. „Warum hat
ſie das Papier zerriſſen?“ fragte er ſich. „Warum
hat ſie die Stückchen in ſo heimlicher Weiſe hinaus-
geworfen?“

Auch die alte Dame geſellte ſich jetzt zu ihnen.
Es war ihr wohl bange geworden in ihrem einſamen
Abteil. Doch auch ſie wußte auf die Fragen der
beiden Männer nichts den Fall Aufklärendes zu
antworten, ſie erklärte nur immer wieder, daß ſie
erſt durch den Schrei der jungen Dame aufgeweckt
worden ſei.

Jetzt tauchten die Lichter von Kroman auf, der
Zug hielt in der von Nacht und Nebel umhüllten
Station.

Die junge Frau ließ ſich aus dem Wagen und
zum Stationsvorſtand führen. Ihre und ihres
Mannes Reifeeffekten brachte man ihr nach.

Während ſie ganz erſchöpft in der Kanzlei auf
dem Sofa ſaß, unterſuchte der Stationsvorſtand eilig
und doch auch recht genau im Beiſein des Zugfüh-
rers und des dazu gehörigen Schaffners den be-
treffenden Wagen, an und in welchem jedoch nicht
das geringſte zu bemerken war, was auf ein Ver-
brechen ſchließen laſſen konnte. Bezüglich der offen
geweſenen Außentür erklärte der Schaffner mit voll-
ſter Beſtimmtheit, daß ſie, wie auch die anderen
Außentüren des Wagens, ſeinerſeits vorſchriftsmäßig
verſchloſſen worden ſeien, daß er ſie jedoch nach er-
folgtem Notſignal offen gefunden habe.

„Sie haben nur das Ehepaar und die alte Dame
ſeit Prag in dieſem Wagen gehabt? fragte der
Stationsvorſtand nachdenklich.

Der Schaffner, ein ältlicher, geſcheit ausſehender
Mann, ſchaute überraſcht Anl „Herr Vorſtand
glauben —?“

„Nichts glaub' ich, Birkex, nichts, aber ich ſetze


oder ein Verbrechen! Jedenfalls muß man ſich
orientieren. Alſo antworten Sie mir.“

„Nun ja. In Böhmiſch-Trübau ſind zwei Herren
eingeſtiegen. Sie hatten Karten zweiter Klaſfe und
ſind bis Brünn gefahren.“

„Alſo zwei Herren?“

Zwei ſichtlich den beſſeren Ständen angehörige
Männer.“ \ ; ‘
8 ſie auch wieder miteinander ausgeſtiegen?“


„Haben ſie größeres Gepäck gehabt?“

„Nein, Der eine hat, ſo viel ich weiß, gar nichts
bei ſich gehabt.“

„Und der andere?“

„Eine kleine Reiſetaſche aus Segeltuch. Es waren
zwei Buchſtaben hineingeſtickt.“

„Wie haben die Leute denn ausgeſehen?“

„Der eine, der jüngere, größere, der mit der
Reiſetaſche, hat wie ein Schauſpieler ausgeſchaut.“

„Und der andere?“

„Von dem hat man nicht viel geſehen. Der
hat die Kapuze von ſeinem Gummimantel überm
Kopf gehabt. Na ja, es hat ja geregnet. Augen-
gläſex hat er getragen und einen Vollbart hat er
gehabt.“

„Kein Gepäck?“

——0

„Sie haben ſich nicht viel in dieſem Wagen
aufgehalten?“

„Nein. Wie ich die Karten nachgeſehen gehabt
hab', bin ich nicht mehr hineingekommen.“

„Das reſervierte Abteil war verhängt?“

„Seit Prag ſchon. Die zwei haben ſich gleich
zurückgezogen.“

„Es wird ſich doch nicht um einen Selbſtmord
handeln?“

„Glaub' nicht. Der Herr war ganz heiter.“

„War nichts Auffälliges beim Ausſteigen der
zwei anderen Paſſagiere zu bemerken?“

„Ich hab' nicht weiter auf ſie geachtet.“

Sie auch nicht?“

Der Vorſtand hatte ſich an den Zugführer ge-
wendet.

Dieſer zuckte die Achſeln und ſagte: „Ich hab'
zwar den Gummimantler in Böhmiſch-Trübau be-
merkt. Er muß in der letzten Minute erſt zur Kaſſe
gekommen ſein, denn er hat es ſehr eilig gehabt.
In Brünn aber hab' ich ihn nicht mehr geſehen.
Da ſind viele Leute aus der dritten Klaſſe ausgeſtie-


„Alſo mit einem Wort: über dieſe zwei Reiſenden
weiß man ſo gut wie nichts.“

„So gut wie nichts, Herr Vorſtand. Aber —“
der Zugführer ſtockte.

„Nun — aber?“

„Eine Bemerkung habe ich doch gemacht.“

„Na, ſo reden Sie doch!“ *

„Ich möchte nur niemand damit in Ungelegen-
heiten bringen.“

„Wen denn?“

„Die junge Frau.“

„Reden Sie.“

„Sie hat ein Papier zerriſſen. Es hat ſo wie
ein Brief ausgeſchaut. Die Papierfetzen hat ſie zum
Fenſter hinausgeworfen.“

„Jedenfalls mußten Sie das melden“

„Es wird ja nicht mit der anderen Sache zu-
ſammenhängen.“ * ;

„Hoffentlich nicht.“

„Sonſt tät's mir leid.“

Der Vorſtand zuckte die Achſeln.
nicht zu melden?“

„Nichts.“ !

„Alſo fahren Sie ab, Rebhan!“ befahl, noch
einen Blick den Korridor entlang ſchickend, der
Stationsvorſtand. „Natürlich wird dieſer Wagen
bis Wien nicht mehr beſetzt ünd gut verſchleſſen
gehalten. Die Dame aus dem Abteil zweiter Klaſſe
iſt wohl auch ſchon anderswo untergebracht?” —

„Freilich. Sie wäre um nichts in der Welt in
dieſem Wagen allein weitergefahren.“

Während dieſe Bemerkungen gewechſelt wurden,
hatten die drei Männer den Wagen perlaſſen, deſſen
Tür Birker ſorgſam hinter ſich verſchloß.

Der Zugführer hieß die wenigen Paſſagiere,
welche die Wagen verlaſſen hatten, wieder einſtei-
gen, ſalutierte vor dem Stationsvorſtand und blies
zur Abfahrt.

Auch Birker ſtand ſchon auf der Treppe eines der
ihm zugewieſenen Wagen und legte die Hand an
die Mütze.

Langſam ſetzte der Zug ſich in Bewegung und
verließ die Station.

Wohl eine Minute lang ſchaute ihm deren Leiter
nach, dann ging er, überlegend, wie viele Schreibe-
reien ihm aus dieſer Sache erwachſen würden, feiner
Kanzlei zu.

Der vom ſchweren Dienſte ſehr ermüdete Mann
war einſtweilen wegen des Vorgekommenen mur ver-
drießlich. —

Ehe er die Klinke der Kanzleitür niederdrückte,
rief ex einen Stationsdiener, der ſoeben vom Wechſel
herüherkam/ zu ſich!

„Befehlen, Herr Vorſtand?“ fragte der Mann.

Wecken Sie den Herın Aſpiranten und dann
machen Sie ſich mit dem SCerny und dem Wpbixal
zu einer Fahrt auf der Draiſine bereit. Natürlich
müßt ihr Fackeln mitnehmen“

—— —

„Weiteres iſt
 
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