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Im Reicde dorf.

Roman von A. von der Elbe.

— —
(Nachdruck verboten)

Erstes Kapitel.

@n der Leipzigexſtraße zu Berlin liegt das
Es Haus des Friſeurs Anatol Goldammer.
Er hat zwar eigentlich in der Taufe
53) den

E Na-

— 8 —

lich in ihrer Küche ſteckt Im dritten Stock, dicht
unter dem Atelier, wohnt der Photograph Emil


leht mit ſeiner achtzehnjaͤhrigen Tochter, welche ihm
geſchickt die Wirtſchaft führt, und einem ältlichen
Vetter, Hans Aſſel, der ein Gehilfe und Retuſcheur
iſt, eintxächtiglich zuſammen. Zu ihm hinauf führt
nicht allein die am Flurgange befindliche Treppe,
ſondern auch ein Aufzug für die Beſucher des Ateliers.

Es war an einem unfreundlichen Tage gegen
Ende Februar, Schneeflocken wirbelten durch die Lüft,

übernahm, gelernt, aber keinen Geſchmack an dem
Bexufe gefunden. Jetzt war er ſchön ſeit langer
Zeit bei ſeinem Vetter Emil Liebreich als Ge-
hilfe fätig. Hier wurde er nie zu feiner Arbeit
getrieben, und ſo konnte er ſich nach feinem Sinne
beſchäftigen Freund Emil mar nämlich ebenfo läffig
in ſeinem Berufe wie er, Seit die rege Frau Do-
rette Liehreich tot war, bummelten die beiden Männer


nach.

Ein anderer Grund, der Aſſel mit unzerreißbaren
Banden hier ſeit
etwa zwölf Jah-

men Anton er-
halten, doch zieht
er Anatol vor.

Sein Geſchäft
geht glänzend,

es hat ein paar
große Schaufen-
ſter, die mit Par-
fümerien, Doſen,
Flaſchen, Haar-
rollen und Re-
klamebildern
verlockend aus-
geſtattet ſind.

Das Haus
gehört dem ſtreb-
ſamen Manne
ſchuldenfrei zu
eigen. Neben
dem einen Schau-
fenſter befindet
ſich die Haus-
— 4
eite hängt der
haukaſten ei-

Photogra-
n. Oben auf
ı Dache ſieht
man den Glas-
bau des photo-
graphiſchen Ate-
liers, und hoch

über dem

Schilde des
Haarkünſtlers

den Namen:
„Emil Liebreich,
Photograph“ in
Rieſenbuchſtaben
prangen.

Sn dem
Schaukaſten ne-
ben der Haus-
tür zieht das in
der Mitte befind-


*


S
e&

(

— Z UG
— * o L

liche Kabinett-
bild den Blick
manches Vor-
übergehenden

auf ſich. Es ſtellt
ein ganz junges,
ſehr hübſches
Mädchen dar.
Im hochgeſchloſ-
ſenen, hellen

Kleide, einen
runden Stroh-
hut auf dem

Kopfe, Blumen
in der Hand,
ſieht es mit gro-
ßen lachenden
Augen unſchul-
dig den Beſchauer
an.

Dann und
wann tritt ein

Herr in den Fri-

ſeurladen, kauft
etwas und fragt,
wer denn das
hübſche Mädel ſei, deſſen Bild da draußen im Kaſten
hange. Gerät er an ein ſchmächtiges Bürſchchen, den
ſiebzehnjährigen Sohn des Hausbeſitzers, Florian
Holdammer, ſo errötet diefer freudig, wirft ſein
blondes Gelock geſchickten Schwungs zurück, ſchlägt
die waſſerhlauen Augen ſchwärmeriſch zur buntbe-
malten Ladendecke empor und flüſtert: „Es iſt die
einzige Tochter des Photographen, Fräulein Marte
Liebreich! Abex es ift bereils vor einem Jahre an
gefextigt, jebt iſt ſie noch viel ſchöner“

Nach dieſer Auskunft denlt mancher: „Könnteſt
dich doch mal da oben abkonterfeien lajfen,“ wenn
er abex ſeinen Vorſatz ausführt, befommt er von
der ſchönen Marie wenig zu ſehen, da ſie gewöhn-


und ſo hoch Hans Aſſels kleines Arbeitszimmer nach
dem Hofe hinaus auch lag, ſo mar doch, obgleich
es ſchon etwa elf Uhr war, das Licht immer noch
knapp.

* Retuſcheur, ein kleiner verwachſener Maun
mit blaſſem Leidensgeſichte und Augen voll Licht
und Hüte, ſaß zurückgelehnt ım ſeinem Stuhl. Vor
ihm ſtand ein großer feſtex Arbeitstifch, bedeckt mir
Handwerkszeug, Metallſtücken und Maſchinenteilchen.
Verdroſſen ſchob er die Bilder zurück, an denen er
pinſeln ſollte, und zog ein dickes abgegriffenes Buch
über Maſchinenkunde zu ſich heran.

Als Sohn eines Goldſchmieds hatte Aſſel hei
ſeinem älteren Bruder, der des Vaters Geſchäft

ren feſthielt war
ſeine väterliche
Zuneigung zu
dem einzigen!
Kinde des Vet-
ters Er hatte
Marie unter ſei-
nen Augen auf-
wachſen ſehen,
und ſie war die
Freude ſeines
armen Lebens
geworden. Ihre
Friſche, ihr hei-
terer Sinn, ihre
große Rührig-
keit taten ſeiner
beſchaulichen
Natur mohl. Er
Tebte ein 0B-
neres Leben als
das eigene mit
dem blühenden
jungen Geſchöpfe.
Ein nachläſ-
ſiges Anklopfen
ſtörte ihn kaum;
erſt als die Tür
hinter ſeinem
Rücken geöffnet
wurde fuhr er
— —
Herr Goldam-
e }
Der Eintre-
tende war ein
unterſetzter
Mann, etwa
Mitte der Vier-
zig Es lag viel
Selbſtbewußt-
ſein und doch
eine gewiſſe Ge-
ſchmeidigkeit in

—— C& mielte
gern den Mann
von Welt und
wußte, was er
wert war Eine
blonde Perücke,
ein Wunder der
Friſeurkunſt, lieh
dem ſchwammi-
gen Geſicht et-
was Jugendli-


„Aſſelchen —

Kellexaſſelchen,

. wWo ſteck Denn

— e
Hab! die Marie
in Küche und
Stube geſucht

und gerufen.
Keine Spur nicht
von dat Putt-
chen U S
Sie wird

ausgegangen

— 4 Han A

ſtand auf, und ſie traten miteinander in den durch

ein hreites Fenſter exhellten Flurgang S

In dieſem Augenblicke ſchnappte der Aufzugemit.


ſich, und ein ſchlankes, doch kräftiges Mädchen
ſprang aus dem Fahrſtuhl hervor. Etwas von länd-
lichex Friſche und Schlichtheit Iag über der ganzen
Erſcheinung. Auf ihrem gewellten Blondhaar fchim-
merte noch eine Spur von Schnee und vanır Je6£ Mn
klaxen Perlen über ihr blühendes junges Geſicht Sie
wiſchte mit der Hand darüber hin und kam heran,
Ohne Hut und Mantel war fie in die Nachbarſchaft
gelaufen, um für ihre Küche Vorrat einzuholen.

Nicht ſo plötzlich, kleines Mariechen!“ rief Gold-

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