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Der Wagen, in welchem das bis jetzt noch völlig
Unaufgeklärte vorgefallen und der wohlverſchloſſen
in Wien angelangt war, trug die Nummer 1203.

Sowie der Zug in die Bahnhofhalle eingefahren
war, erhob ſich im Warteſaal der zweiten Klaſſe
langſam ein kleiner, magerer Mann von einem Sitz,
welcher dicht unter einem der Kronleuchter angebracht
war.

Der Mann faltete ſeelenruhig eine vielmals in-
einandergelegt geweſene Karte, in welcher er geleſen
hatte, zufammen. Es war eine äußerſt deutlich ge-
zeichnete, auf grauer Leinwand aufgezogene Land-
karte, eine Generalſtabskarte, welche die Bezeich-
nung: „Sektion Kanitz-Eibenſchitz-Lotſchnau“ trug.

„Jetzt fehlt mir noch eine Strecke von elf Kilo-
metern,“ ſagte der kleine, magere Mann zu ſich
ſelber, als er die ſehr nett zuſammengelegte Karte
in die Innentaſche ſeines Winterrockes ſchob, dann
brummte er noch etwas: „Aber natürlich krieg' ich
ja dieſen Fall nicht.“ Und während er leiſe ſo zu
ſich ſelber tedete, ging er in die Aukunftshalle hin-
aus, wo er ſich ſeinen dicken Rock zuknöpfte.

Ja, er trug einen Winterrock, denn erſtens war es,
trotzdem nach dem Kalender der Frühling ſchon ein-
getreten war, ſelbſt bei Tage noch recht winterlich
rauh, und zweitens war der kleine, magexe Mann
heute ſchon ausgegangen, als noch die Nachtkälte
ihre volle Herrſchaft ausübte.

Zu dieſem zeitlichen Ausgange hatte ihn das
Telephon aufgefordert, das er ſich unlängſt in ſeiner
Junggeſellenwohnung hatte einrichten laſſen.

Er war ſoeben in einen recht angenehmen Traum
verſunken geweſen, da hatte das Klingelwerk zu
läuten begonnen.

Eine halbe Minute ſpäter ſtand er, klappernd
vor Froſt, in dem ſehr kalt gewordenen Zimmer,
darin ein Nachtlicht eine matte Helligkeit verbreitete,
vor dem Telephon.

„Hier Breuner —“ ſagte er, nachdem er einen
Moment lang die Hörmuſchel an die Ohren gelegt
hatte — und nach einer Weile wieder: „Sehr wohl,

Herr Kommiſſär. — O ja, ich fühle mich geſund
genug dazu. — Alſo um ſieben Uhr. — Gewiß.
Ich werde pünktlich ſein. Wie immer. Guten
Morgen, Herr Kommiſſär. — Schluß.“ Nach dieſem

Geſpräch legte Breuner die Hörmuſcheln nieder und
begann ſeine Toilette damit daß er unter ſieben
Paar prächtig glänzender Stiefeletten das am beſten
gefütterte herausſuchte.

Er tat danach einen Blick auf die große Pendel-
uhr, welche über ſeinem Schreibtiſche hing. Sie
zeigte 6 Uhr 13 Minnten.

Wiewohl Breuner ſich nicht übermäßig beeilte,
4 er doch ſchon den Hut auf, als es halb ſieben
ſchlug.

„Siebzehn Minuten,“ ſagte er, als er die Tür
ſeiner Wohnung verſchloß.

Als die auf mitteleuropäiſche Zeit geſtellte Uhr
in der Halle des Staatsbahnhofes auf 6 Uhr 41 Mi-
uuten wies, betrat Breuner den weiten, kahlen
Raum, in welchem etwa ein Dutzend Leute des
nächſt abgehenden oder kommenden Zuges harrten.

Er zog ſeine Taſchenuhr und verglich ſie mit
der Bahnhofuhr.

„Stimmt,“ murmelte er. „Sechs Uhr ſiebenund-
vierzig Wiener Zeit.“

Die äußerſte Pünktlichkeit war des Geheimpoli-
ziſten Breuner Steckenpferd.

Um 6 Uhr 48 Minnten ſtand er vor dem journal-
führenden Polizeikommiſſär, welcher ihn hierher be-
rufen hatte.

Noch einmal Guten Morgen! Herr Kommiſſäx!“
ſagte er, ſeinen Hut lüftend, wobei ſich ſeine Perücke
ein wenig verſchob.

Der Detektiv Breuner trug nämlich immer ſeiner
Neigung zu Erkältungen wegen eine Perücke. Nur
irug er nicht immer ein und dieſelbe, und an dieſem
Umſtand war ſein Beruf ſchuld.

Er verſuchte in Fällen, wie der jetzige einer war,
das Falſifikat auf ſeinem Kopfe auch gar nicht als
echten Haarwuchs auszugeben. Ganz Ungeniert zog
er, die Unordnung auf feinem Hauple fühlend, ein
Spiegelchen aus einer feiner vielen Tafchen und
rückte ſich mit deſſen Hilfe ſeine Perücke zukecht.

Der Kommiſſär nickte ihm freundlich zu. „Grüß
Gott, Breuner. Auf Sie kann man halt immer
rechnen!“ ſagte er. „Hab' mir's ſchon überlegt,
ob ich nicht den Illing dazu verwenden ſoll, weil
e5 eigentlich eine Gewiſſensſache iſt, Sie um dieſe
Zeit ins Freie zu locken, da Sie doch noch gar nicht
recht geſund ſind.“

„Ab, das kut nichts, Herr Kommiſſär. Soweit
bin ich ſchon, daß ich wieder meinen Dienſt verſehen
kann. Alſo, was gibt's denn?“

„Einen Wagen ſollen Sie unterſuchen.“

„Was iſt denn drin geſchehen?“

„Weiß man nicht.“

„Gar nichts?“

— 28 —

„Man weiß nur, daß ein Reiſender daraus ver-
ſchwunden iſt.“

„So. Vielleicht einfach hinausgefallen. Es gibt
ja Leute, die immer an den Türen herumkleben
müſſen.“

„Möglich, daß es ſo iſt. In dieſem Fall ſind
aber ſechzigtauſend Gulden in Banknoten und Wert-
papieren mit dem Mann hinausgefallen.“

„Ah — ſo iſt die Geſchichte!“

—— 19 UE MM ;

„Und wo iſt ſie denn paſſiert?“

„Zwiſchen Böhmiſch-Trübau und Kanitz-Eiben-
ſchitz. So wenigſtens hat man uns gemeldet.“

Während der Kommiſſär ſo redete, war Breuner
einem Schrank herangetreten und hatte ihn ge-
öffnet.

Was er darin ſuchte, hatte er ſehr bald gefun-
den Dieſer Schrank mußte eim guter Belannter
von ihm ſein.

Es war auch tatſächlich ſo. Breuner wurde
meiſt bei Eiſenbahnverbrechen verwendet. Seine

Spezialität mar die Überwachung
brecher.

„Links im zweiten Fach unten,“ ſagte der Kom-
miſſär, als Breuner an den Schrank herangetreten
war.

„Ich danke, ich weiß ſchon.“

Eine Minute ſpäter hatte er die Karte „Sektion
Kanitz-Eibenſchitz-Lotſchnau“ in der Hand.

Der Kommiſſär fuhr fort: „Es iſt wahrſcheinlich
eine recht undankbare Arbeit, die ich Ihnen da zuweiſe,
aber gerade weil bis jetzt gar keine Anhaltspunkte
an dem Tatort, in dem Wagen, gefunden worden
ſind, möchte ich, daß gerade Sie ihn unterſuchen.
Denn wenn überhaupt einer etwas finden kann, ſo
ſind Sie das.“

Breuner verbeugte ſich geſchmeichelt. „Sonſt
brauche ich einſtweilen nichts zu wiſſen, Herr Kom-
miſſär?“ fragte er.

Dieſer ſchüttelte den Kopf. „Einen Wagenſchlüſſel
haben Sie ja?“

„Jawohl.“

„Der Wagen hat die Nummer 1203; er wird
auf das Geleiſe Nummer 4 geſchoben und verſchloſſen
werden. Sie begeben ſich ſofort hinein. Dem Illing
habe ich ſchon die Weiſung gegeben, in Ihrer Nähe
zu bleiben. So — und ſjetzt Gott befohlen! In
zehn Minuten iſt der Zug da. Er hat diesmal
neunzehn Minuten Verſpätung.“

Breuner ging. Er konnte es ſich nicht verſagen,
während des Wartens noch einen Blick in die Ge-
neralſtabskarte zu tun, als aber der heranrollende
Zug ſich vernehmen ließ, ſteckte er den ihm ſo intex-
eſſant gewordenen Plan ein und begab ſich ruhig
in die Halle hinaus, ſchaute mit einem gewiſſen be-
haglichen Intereſſe auf die wandernden Lichter und
mit einem kaum anderen Intereſſe auf den roten
Punkt, der, immer größer und leuchtender werdend,
im Nebel daherkam.

Joſeph Breuner hatte es während der ſchon
Jahre dauernden Ausübung ſeines Berufes ver-
lernt, aufgeregt zu werden.

Als der Zug ſeiner Paſſagiere entledigt war,
wartete Breuner das angemeldete Verſchieben gar
nicht erſt ab, ſondern ſtieg ohne weiteres in den
Wagen, welcher die Nummer 1203 führte. Der Zug
ſetzte ſich gleich danach wieder in Bewegung Nach
einigen Minuten ſtand Nummer 1203 mit ſeinem
einzigen Inſaſſen auf dem vierten Geleiſe, weit
draußen zwiſchen einem Güterſchuppen und einem
Kohlenberg von recht anſehnlicher Ausdehnung.

Es dauerte reichlich eine Stunde, ehe Breuner
den Wagen wieder verließ, um ihm nun auch von
außen eine gründliche Unterſuchung zu teil werden
zu laſſen.

„Immer noch nichts?“ fragte in dem Augenblick,

reiſender Ver-


knochiger Mann, der zuweilen in der Nähe des
Schuppens aufgetaucht war.

„Nichts, Illing, gar nichts Beſonderes habe ich
gefunden,“ entgegnete Breuner und ging gemüts-
ruhig an dem ſpöttiſch Lächelnden vorüber Er
ſchaute ſich nicht ein einziges Mal um, wußte aber
dennoch ganz genau, daß der mißgünſtige Kollege
jeb£ ſofort in den Wagen kroch, um eine Nachleſe
zu halten.

Im Bureau empfing der Kommiſſär ihn nicht
mit ſeiner Frage, ſondern damit, daß er ihm von
einem Diener eine Schale heißen Kaffees und zwei
knuſperige Kipfeln auf einem Nebentiſchchen ſervieren
ließ.

Es war inzwiſchen heller Tag geworden, ſo
hell, daß man die rußſchwarzen Spatzen auf dem
den Kanzleifenſtern gegenüberliegenden Dache umher-
hüpfen ſehen, und die zurückgebliebenen Waſſer-
tropfen an dem noch kahlen Zweige zählen konnte,
der, zuweilen vom Winde bewegt, an das Fenſter
klopfte

Breuner hatte noch kein einziges Wort geredet.
Jetzt ſchob er die leere Schale von ſich und ſagte:
* war's. Ich danke verbindlichſt, Herr Kom-
miſſär.“

Dieſer nickte und deutete auf den Seſfel, auf
welchem vor etwa einer Stunde die Majorin Au-
guſtin geſeſſen hatte.

Jetzt ſaß Breuner darauf und nahm ein Notiz-
buch aus der Taſche ſeines Jaketts. Seinen Winter-
überrock und Hut hatte er ſchon bei ſeinem Eintritt
abgelegt.

„Na alſo!“ ſagte der Kommiſſär-

Daraufhin begann Brenner mit ſeinem Bericht
über ſeine Unterſuchung.

Er leitete ihn mit der wenig verſprechenden Be-
merkung ein: „Ich hab' ſo gut wie nichts gefunden.“

„Alſo doch etwas,“ entgegnete der Beamte.

„Ich weiß aber nicht, ob es daxauf Bezug hat.“
Breuner ſchlug behutſam ſein Notizbuch auf. „Es
muß eine feingliederige goldene Kette kürzlich in dem .
Wagen zerriſſen worden ſein,“ ſagte er, ein zuſam-
mengefaltetes Papierſtückchen zur Hand nehmend.
Als er es vorſichtig auseinandergeſchlagen hatte,
ſah man ein winziges, fadenähnliches Stückchen
gelben Metalls, das ſich noch ein wenig ringelte.

„Stimmt,“ ſagte der Kommiſſär.

„In einem reſervierten Abteil erſter Klaſſe hat
eine blonde Dame während dieſer Fahrt eine Haar-
ſpange verloren.“

„Muß die Dame blond geweſen ſein?“

Breuner antwortete damit, daß er eine winzige
Haarſpange von dunklem Schildpatt vor den Koͤm—
miſſär niederlegte. Auf dem weißen Papiex, darauf
ſie jetzt lag, zeichnete ſich deutlich ein goldblondes
Haar ab.

„Ich hätte noch hinzuſetzen können, daß die
Dame krauſes, blondes Haar hat,“ bemerkte Breuner,
und indem er ſeinem Notizbuch ein winziges bräun-
liches Ding entnahm, fuhr er fort: „Es war auch das
Dameneoupé zweiter Klaſſe, welches die andere Ab-
teilung des Wagens enthält, auf dieſer Fahrt be-
ſetzt. Und dort hat man Tee getrunken, ich ſchätze
Tee, der auf einer größeren Station verabreicht
worden iſt, denn —“ Breuner machte ein Geſicht,
als ob er Unangenehmes ſchmecke — „die Reſtau-
rateure der Zwiſchenſtationen verwenden dieſe Sorte
nicht. Ich glaube wenigſtens, daß es Haylantee
iſt, der in dem Abteil getrunken wurde. Das Blätt-
chen iſt noch ganz elaſtiſch; es iſt alſo vor noch nicht
ſehr langer Zeit abgebrüht worden, vermutlich in
Brünn.“

„Nein, in Prag,“ erwiderte der Kommiſſär“

Alſo in Prag! wiederholte der andere gleich-
mütig, „und die Perſon, welche Tee trank, hatte
ſchlechte Zähne, denn ſie mußte die Enden des
Kipfels, das ſie gegeſſen hat, unperzehrt laſſen.“

Breuner legte die zwei ſehr knuſperig gebackenen
äußerſten Enden eines Kipfels auf den Tiſch.

Es war in der Tat eine alte Dame —“ erklärte
der Kommiſſär.

„Die ſchwarze Valeneienneſpitzen am Kleide trug
Eine Zacke davon habe ich in das Türſchloß ein-
geflemmt gefunden.. Sie iſt alſo vexmutlich während
der Fahrt raͤſch auf den Korridor hinausgegangen.“

Sehr raſch?

Herr Kommiſſär wiſſen das L

„Sie ſelber hat es mir gefagt. Ein Schrei der
blonden Dame hat ſie dazu vexanlaßt.“

„Hat die blonde Dame geſchrieen? Jedenfalls
mar fte zuvor gemütsruhig genug, Bonbons zu ejfen.
Dieſe Bonbonniere nämlich habe ich auf einem Eckſitz
des reſervierten Abteils gefunden.“

Breuner zog ein mit braunem Lack überzogenes
Behaͤltnis aus ſeiner Taſche. Es war von ſehr be-
ſcheidenen Dimenſtonen, kanm o groß alsS eine jener
Schachteln, in denen die engliſchen Pfejjerminzzelt-
chen verkauft werden. Auch haktte es dieſelbe Form,
nur war es ein ſchlankerex Zylinder. Es war ein
ſehr nett gearbeitetes Gefäß; ſein Deckel war, das
bemerkte Breuner gerade, abſchraubbar-

Er ſchraubte ihn raſch ab, und dann ſchauten er
und der Kommiſſär einander überraſcht an-

Waͤs der Detektiv da in der Hand hielt, war
feine Bonbonniere, das war die dünne Blechhülle
eines Fläſchchens. ; ; . ;

Die[es Fläfchchen heſaß einen eingeriebenen Glas-
ſtöpſel, den Breuner herauszog.

„Ah!“ rief er verwunderk und dann hielt er
das Fläſchchen ohne weiteres dem Kommiſſär unter
die Naſe. }

„Alſo ein Betäubungsmittel,“ ſagte dieſer nach-
denklich. © ; .

Breuner beſtätigte: „Ja, ein Betäubungsmittel.“

Und nach einer Weile fuhr er fort: „Jetzt, Herr
Kommiſſär, werden Sie es mir vielleicht ſagen, was
in dem Wagen vorgefallen iſt.“

Da exrzählte ihHm jener, was er ſelber wußte und
was allerdings vecht wenig war-
 
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