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„Bis er nicht alles geſtand,“ fügte die Dame des
Hauſes, Herberts Schweſter, lebhaft hinzu, und legte
ſtolz lächelnd ihre Hand auf des Bruders Schulter.

„Nun — nun! — Du wirſt mich noch eiferſüch-
tig machen, lieher Schwager!“ ſcherzte ihr Gatte.
„Halte du dich lieber mehr zu Fräulein Fritzi.“

Und er drängte ſich zwiſchen ſeine Frau und
Herbert, die lächelnd voneinander wichen.

Jetzt erſt gewahrte der junge Doktor die ſchwarz
gekleidete Frau, welche im Hintergrunde des Zim-
mers geblieben war und ihm nun mit einem müden
Lächeln zunickte Raſch ſchritt er auf ſie zu. „Arme
gnädige Frau!“

„Auch ich bin froh, daß Sie recht behalten haben,“
ſagte ſie freundlich. „Es iſt ein gutes Zeugnis für
Ihre Menſchenkenntnis.“ Sie wollte ſich wieder in
dem Winkel, in welchem ſie geſeſſen, niederlaſſen.

„Kommen Sie nur, Frau Lansky. Es iſt nicht
gut für Sie, allein zu bleiben,“ bat Herbert und
führte die junge Frau zu ſeiner Schweſter, welche
ſie zärtlich in die Arme ſchloß und ihr mitleidig in
die Augen ſchaute.

„Biſt ſo bleich heute! Iſt dir nicht wohl? Ich
wollte dich nicht ſtören und auch nicht von den
andexen ſtören laſſen, weil ich annahm, du brauch-
teſt Ruhe.“

„Ich brauche ſie auch. Ich hätte gar nicht hier-
herkommen ſollen. Aber Papa ſchickte mich fort. —
Auch er meint, ich ſolle nicht allein bleiben.“

„Da hat er ganz recht. Je mehr du dich zer-
ſtreuſt, deſto eher wirſt du den ſchrecklichen Eindruck
überwinden.“

Die Geſchwiſter hatten ſich mit Lina in eine
Fenſterniſche zurückgezogen.

Jene ſah jetzt zufällig auf ihr Trauerkleid nieder
und ſchauderte dabei. „Wenn ich ihn nur ſchon über-
wunden hätte!“ murmelte ſie, „und —“

„Und — Frau Lina?“ Herbert ſchaute ihr for-
ſchend in die Augen.

Sie ſenkte die ihrigen. „Und wenn ich mir nur
nicht ſo viele Vorwürfe machen müßte.“

„Vorwürfe? Ja, warum denn?“

„Du biſt überſpannt,“ ſagte Frau Clariſſe Pe-
trofsky, Herberts Schweſter, und ſich zu ihrem Bru-
der wendend, fuhr ſie lebhaft fort: „Rede ihr aus,
was ſie dir jetzt geſtehen wird.“

Damit nickte ſie den beiden zu und geſellte ſich
zu ihren anderen Beſuchern, zu denen auch ihr Vater,
der penſionierte Oberſt Klinger, gehörte.

Neben dieſem ſaß Fräulein Fritzi und deren
Papa, dex Profeſſor Römer, welcher an der Prager
Univerſität das deutſche Recht vortrug, und einer
deſſen Lieblingsſchüler Herbert noch vor etlichen
Jahren geweſen war.

Fritzi und nun auch Clariſſe lauſchten aufmerk-
jam den Reden der beiden Herren, welche Reden
ſich — wie derzeit wohl auch an vielen anderen
Orten um den heute entſchiedenen Schwurgerichts-
fall drehten, deſſen Ergebnis die Abendblälter leb-
haft beſprochen hatten.

E3 war Herbert Klinger in ſämtlichen Zeitungen
die Ehre widerfahren, voll Auerkennung ermähnt zu
werden auch hatten ſämtliche Zeitungen die gläu-
zende Verteidigungsrede, welche er der Anna Mhslik
gehalten hatte, abgedruckt, und eines der angeſehen-
ſten Blätter Prags ließ dem Bericht über den heute
beendeten Prozeß einen ebenſo ſaͤchlich als warm
gehaltenen Leitartikel vorangehen, in welchem den
Indizienbeweiſen im allgemeinen ebenſo kempera-
mentvoll zu Leibe gerückt worden war, als Klinger
dies bei ſeiner Verteidigung getan hatte. Und in
jeder der Zeitungen mar ganz beſonders der Um-
ſtand hervorgehoben, daß es Klingers aus dem Her-
zen kommender und deshalb auch herzbewegeuͤder
Rede zumeiſt zu verdanken war, wenn jeßzt ein Huſtiz-
irrtum hatte wieder gutgemacht werden können.

So war alſo der hübſche, flotte Doktor Herbert
Klinger heute nicht nur im Kreiſe ſeiner Familie,
ſondern guch in der Sffentlichkeit der Gefeierte.

Die Seinigen hatten ihn gleich nach Schluß der
Gerichtsverhandlung erwartet aber ſtalt feiner mar
ein Dienſtmann mit einem Briefchen gekommen,
worin er ſchrieb: „Ich hole die Mütter der Anna
Miyslit, Erwartet mich erſt gegen vier Uhr.“

Alſo erwarteten ſie ihn gegen vier Uhr, und auch
Papg Klinger und der Profeſſor mit ſeiner reizen-
den Tochtex waxen gekommen, und Clariffens Freun-
din Lina Lansky.

Dieſe befand ſich jetzt allein mit dem jungen
Doktor — oder doch fo gut wie allein, denn niemand
von der kleinen Geſellſchaft konnte hören, was ſie
redeten.

Und das war ſtellenweiſe recht ſonderbar für eine
* welche vor drei Tagen ihren Mann verloren

atte.

„Alſo worüber machen Sie ſich Vorwürfe?“ fragte
Klinger.

„Weil dieſes Kleid eine Lüge iſt.“

— —

„Es war ja auch Ihr Eid eine Lüge Fitr
ſolche Lügen iſt die gefellſchaftliche Ordnung ver-
antwortlich,“ ſagte der junge Doktor zornig.

Lina lächelte bitter. „O nein, Herr Doktor. Für
alles, was bei dieſem Eid eine Lüge war, iſt nur
meine eigene Schwäche verantwortlich.“

„Eine Schwäche, die man den jungen Mädchen
anerzieht. Das alſo braucht Ihnen das Herz nicht
ſchwer zu machen. Sie haben Lansky ja geſagt, daß
Sie ihn nicht lieben. Mehr konnten Sie nicht tun.“

„Aber trauern ſollte ich doch jetzt um ihn.“

„Und Sie können es nicht?“

„Es tut mir ja ſchrecklich leid, daß er ſo enden
mußte, aber ein ganz Fremder würde mir ebenſo
TD

„Ex war Ihnen ja innerlich auch fremd. Wo-
her ſollte alſo da eine für die Perfon empfundene
Trauer kommen?“

„O, reden Sie doch nicht ſo!“
ſah Lina aus.

Herbert ſchüttelte ungeduldig den Kopf. „Es iſt
die Wahrheit,“ ſagte er kurz. „O, Frau Lina, wenn
Sie ſich getrauten, wahr, ganz wahr zu ſein, würden
Sie es wenigſtens zugeſtehen, daß Sie ſich im Grunde
wie erlöſt fühlen. Aber freilich, Sie würden ſich
lieber die Zunge abbeißen, als dieſes ganz Selbſt-
verſtändliche zugeben. Hab' ich recht?“

„Sie haben recht,“ murmelte Lina, und ihre
Stimme klang merkwürdig trocken, „und eben weil
Sie recht haben, ſchäme ich mich vor mir ſelber.“

„Ob mit Recht — das iſt eine andere Frage,“
meinte ruhig dex junge Rechtsanwalt. „Keinesfalls
braucht man ſich über ein Empfinden, das uns ohne
unſer Hinzutun ankommt, Vorwürfe zu machen. Ich
denke dabei nicht nur an Ihre ſo jäh abgebrochenen
Beziehungen zu Lansky.“

In das Geſicht der jungen Frau ſchoß das Blut.
Aber raſch erblaßte dieſes liebe, hübſche Geſicht
wieder, indeſſen Lina traurig ſagte: „Sie denken
an Franz. Auch ich tue dies oft, und da wachſen
meine Vorwürfe. Sie wiſſen es wohl, daß ich noch
mit ihm korreſpondiert habe, als ich ſchon Braut
war.“

Herbert verneigte ſich bejahend, dabei ſah er an-
gelegentlich auf die Straße hinunter, denn er wollte
das neuerliche Erröten der jungen Frau lieber nicht
ehen.

„Dieſe Briefe tröſteten ihn, liebe gnädige Frau,“
entgegnete er, „ſie werden ihm noch jetzt liebe Tröſter
ſein, da er ſo allein iſt.“

„Allein? Er iſt ja bei ſeiner Mutter!“

„Seine Mutter iſt tot!“

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Völlig gequält

U

„Er ſchrieb mir einige Tage vor Ihrer Hochzeit,
daß er ſeine Mutter begraben habe und verreiſen
müſſe. Ich habe Ihnen abſichtlich dieſe Kunde nicht
zukommen laſſen, denn ich wollte Sie nicht, noch
dazu ganz ohne Zweck, unruhig machen.“

Lina ſenkte den Kopf. Über ihre Wangen ſchlichen
ſich Tränen.

„Faſſen Sie ſich, liebe Frau Lina,“ bat der Dok-
tor herzlich, „und — hoffen Sie.“

„Auf was denn? Ich bin kein Mädchen mehr
und dem Geſetze nach auch keine Witwe. O — ich
habe viel Grund zu hoffen! Aber ich verdiene auch
kein Glück. Ja — ſchauen Sie nur, Doktor! Ich bin
ſelbſt ganz verwundert darüber, daß ich einen ſo
armſeligen Charakter habe. Franz, den ich ſo lieb
— o ſo lieb habe, den ließ ich feig im Stiche und
ließ mich zu dem anderen hinüberziehen, dem ich
nun nicht einen einzigen herzlichen Gedanken nach-
ſchicken kann. Grauen, nur kaltes Grauen hat mir
ſein unheimliches Ende bereitet, aber bedauern —
nein, nicht einmal bedauern kann ich es. Mir iſt's
einfach, als ob etwas Widriges aus meinem Leben
verſchwunden wäre und doch noch nicht ganz ver-
ſchwunden. Ich trage ja noch die Feſſeln dieſes
Menſchen und werde ſie — zu meiner gerechten
Strafe — wohl immer tragen müſſen, denn —“

Frau Lansky redete nicht weiter. Sie beſchloß
ihre leidenſchaftliche Rede mit einem tiefen Seufzer
und drückte ſich ſchaudernd in den Seſſel, welcher
in der Fenſterniſche ſtand.

„Fühlen Sie ſich nicht wohl?“ fragte in dieſem
Augenblick Fräulein Fritzi und neigte ſich liebreich
über die bedauernswerte Frau, deren Innenleben
ihr ja nicht ganz unbekannt war.

Lina entgegnete trüb lächelnd: „Ich danke Ihnen
dafür, daß Sie Ihren Bräutigam erſt ſo ſpät rekla-
mieren. Immerhin iſt mir jetzt wohler, als ehe ich
mich ausgeſprochen hatte.“

„Dann ß ©3 @ gut Aber yeRE. Fran Lina,
dürfen Sie ſich nicht mehr abſondern, ſonſt werden
Sie gar zu traurig!“ plauderte Fräulein Fritzi und
führte Lina zu dem Sofatiſch, woͤhin ihnen der Dok-
tor folgte.

Dort waren der Profeſſor und der Oberſt ſoeben
bei einer Meinungsdifferenz angelangt.

Erſterer war dafür, daß bei dem geringſten
Zweifel an der Schuld eines Angeklagten dieſer auf
noch ſo viele Indizienbeweiſe hin nicht verurteilt
werden ſollte, ſandern daß man, wenn ſich nicht auch
noch alle zur Schuld notwendigen inneren Wahr-
einlichkeiken, ja Sicherheiten hinzufügten, ſolch einen
Angeklagten freigeben müſſe, auch dann freigeben
müſſe, wenn die Möglichkeit, daß er ſchuldig fei, auf
der Hand liege.

Der Oberſt war nicht ganz einverſtanden mit
ſolcher Behauptung. Er hatke, folauge er noch aktiv
war, in ſeinen Kreiſen fo manchen Fall mit zu be-
handeln gehabt, bei welchem, wenn auch nicht das
Leben und die Freiheit, ſo doch die Standesehre oder


kommen waren Und er hatte, wie die anderen Herren
vom Ehrengericht, immer ziemlich kurzen Prozeß
gemacht.

So wollte er im großen ganzen auch die Zivi-
liſten hehandelt fehen. „Die innere Überzeugung
der Geſchwoxenen, geſtützt auf das geſammelte Be-
weismatexial ſollten — wie es ja taͤtſächlich zu ge-
ſchehen pflegt — zur Urteilsfällung geuügen,“ ſchloß
er ſeine bündige Rede.

„Warum ſchüttelſt du denn den Kopf?“ fragte
er, auf ſeinen Sohn blickend. „Weil alle hundert
Jahre einmah ein Juſtizirrtum begangen wird, wie
es in dieſem Falle geſchehen iſt, ſoll man ſo und fo
viele Schuldige zum Hohne auf die Gerechtigkeit und
zur Gefahr für ihre Mitmenſchen laufen laffen, weil
das Pünktchen auf dem ſonſt fehr deutlichen i fehlt?“

„Papa — du ſiehſt zu ſchwärz!“

„Und du biſt noch ein Optimiſt. Daß du dies-
mal das Richtige herausgefühlt haſt, freut ja auch
mich recht herzlich. Auch biſt du mit deinem ſonni-
gen“ Gemüt wie zum Verteidiger geboren, denn du
glaubſt einfach an die Schlechtigkeit nicht, wenn ſolche
Leute noch — — Aber Fritzi, was tun Sie denn da?“

Der alte Herr wollte die Hand zurückziehen,
allein es ſaß ſchon ein feſter Kuß darauf, und Fräu-
lein Fritzis Augen lachten den Oberſten an, während
die junge Dame befriedigt ſagte: „Es iſt genug,
Papa! Ich habe heute in allen Abendblättern Her-
berts Lob geleſen, und es war nicht ſparſam —
Sie jedoch haben doch das Schönſte über ihn geſagt,
und dafür habe ich Ihnen die Hand küſſen müſſen.
Gelt, mein Sonniger! Der an die Schlechtigkeit
einfach nicht glaubt?“

„Sie ſind alſo ganz auf ſeiner Seite?“ lachte der
Oberſt. ;

„Nicht völlig. O nein, denn ich glaube an die
Schlechtigkeit. Aber es tut mir rieſig wohl, daß
Herbert, trotzdem er ſo klug iſt, nicht recht begreift,
daß einer ſo recht gemein handeln kann. Denn nicht
wahr: Schlechtigkeit beruht auf Gemeinheit?“

„Das ſtimmt, Fritzi. Zugleich bemerke ich, daß


„So?

„Freilich! Rangieren Sie mir einmal ſchnell ein
Eiferfuchtsverbrechen, eine Rachetat in die gehörige
Rubrik ein“

„O — dabei braucht nichts Gemeines zu ſein.“

„Na, ſehen Sie, Fritzi! — Und wohin reihen
Sie derlei ein, wenn kein gemeines Motiv dahinter
iſt?“

„Unter die im Affekt begangenen Handlungen.
Derlei vollführen das Blut und die Nerven. Das
ſind Handlungen, welche der Schuldige, wenn ſein
Blut wieder ruhig, ſein Denken wieder klar gewor-
den iſt, ſelber verdammt und am liebſten nicht be-
gangen haben möchte.“

„Weswegen man ihn wohl noch zärtlich tröſten
ſoll?“ warf der Oberſt ironiſch ein

„O nein, man ſoll ihn ſtrafen,“ gab Fritzi mit
glühenden Wangen zu. „Denn wer mit anderen
Menſchen lebt, ift ihnen Selbſtbeherrſchung ſchuldig.“

„Alſo doch? &, er Kinderl! Was Sie von
ſo einem armen Verbrecher nicht alles verlangen!“

„Spotten Sie nur, Papa. Ich ſpüre ja doch,
daß ich recht habe, auch daxin recht habe, wenn ich
eine möglichſt milde Beurteilung für derlei Unglück-
liche wünſche.“

„Alſo nicht Aug' um Aug' und Zahn um Zahn?“

„Nun, darüber iſt man, Gott ſei Dank, ja doch
längſt hinaus, daß man aus einem Verbrechen be-


„Aber halbbewußt — oder wohl auch unbewußt
geſchieht dies gar leicht, wenn die Juſtiz guf alle
Fälle ein Opfer haben muß,“ ſagte Herbert, der bis
ſetzt ſchweigend zugehört hatte.

„Es iſt ſo,“ miſchte ſich mun auch Römer wieder
ins Geſpräch, „und daß Sie dieſe, auch meinem Da-
fürhalten nach richtige Anſicht mit ſolch, feuriger
Rückſichtsloſigkeit dem Staatsanwalt gegenüber ver-
treten haben, hat mich ſehr gefreut.“

„Warum eigentlich hat dich denn der Präſident
gerügt?“ fragte Fritzi. „Ich hätte ihn dafür er-
würgen mögen.“
 
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