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So redend ging der Buchhalter ſchon hinaus.

Kneisl befolgte nicht buchſtäblich ſeine Weiſung,
denn er berührte etwas, er zog wieder die kleine
Lade auf, in welcher die Poſtquittungen lagen. Er
nahm die Umſchläge heraus.

Sie trugen die Schrift einer Frau. Kneisl ſteckte
ſie zu ſich, dann nahm er eiligſt Einſicht in die zwei
Notizbücher, welche in einer der großen Laden des
Schreibtiſches lagen.

Soviel er beim haſtigen Durchblättern der zwei
Büchlein bemerken konnte, enthielten ſie nur geſchäft-
liche Notizen.

Er war noch nicht lange mit dieſer Durchſicht
fertig geworden, da kehrte Loſerth wieder zurück
und beendigte mit ihm die vorhin begonnene Arbeit.

Schon wollte Loſerth die Durchſicht der amtlichen
Schriftſtücke beenden, als er plötzlich beim letzten
erſtaunt aufſah. „Ja, was iſt denn das?“ ſagte
er zu Kneisl, „da liegt ja ein Hypothekeninſtrument,
nach dem er das ganze Geſchäft mitſamt dem Haus
faſt bis zum vollen Wert verpfändet hat! Sechzig-
tauſend Gulden hat er drauf genommen.“

Kneisl intereſſierte das ungemein. Man mußte
ſich eigentlich wundern, weshalb er das Schriftſtück,
das Loſerth ihm hinreichte, ſo genau ſtudierte. Es
ging ihn doch eigentlich gar nichts an.

Dann wurden die Amtspapiere wieder ordnungs-
gemäß untergebracht, der Schreibtiſch verſchloſſen,
und die Schlüſſel wieder an den Ring getan.

Kneisl ſah ohne Bedauern, wie Loſerth jenen
wieder in die eiſerne Kaſſe ſperrte.

Freilich, ob er mit den Umſchlägen einen guten
Fang gemacht, das war noch ſehr die Frage. Jeden-
falls aber waren ſie das einzig Intime, das der
Schreibtiſch Lanskys umſchloſſen hatte, und für
Lanskys Intimitäten intereſſierte ſich nun einmal
der buckelige Zeichner ganz beſonders.

Es war zwei Tage ſpäter. Gegen Sonnenunter-
gang hatte es heftig geregnet und noch trieften die
Bäume, und in jedem der hundert und aberhundert
Veilchen, die aus dem vermooſten Gartenboden wuch-
jen, zitterte ein klares Tröpfchen.

Der Himmel war noch immer von Wolken be-
deckt. Es konnte jeden Augenblick wieder zu regnen
anfangen. Der Gartengrund war ſo durchnäßt, daß
da und dort große Lachen ſtanden.

Dennoch ging jemand darin ſpazieren, und das
war Herr Kneisl.

Die zwei Gehilfen, welche auch ſchon ihre Werk-
* zuſammenlegten, ſchauten ihm ſpöttiſch lächelnd
nach.

„Was er nur immer in dem Garten zu ſuchen
hat?“ bemerxkte der eine, er hieß Lehnhart, „da ginge
ich doch lieber wo andershin.“

„Du, ja, und ich, denn uns ſchaun die Mädel
nach, wenn wir über die Straße gehn,“ meinte
Mohr, der andere, „abex was ſuchte denn ſo ein
arm's Haſcherl da draußen? Herr Gott, es muß
ſchrecklich zuwider ſein, ſo einen Buckel zu haben!
Da find ich's begreiflich, daß er lieber in unſerem
Garten bleibt. Da ſpottet ihn wenigſtens keiner
aus — außer wir zwei. 's iſt wirklich nicht recht.“

„Sei nur nicht gleich wieder weichherzig. Der
iſt ſamt ſeinem Buckel noch hochmütig genug. Kaum
daß er ſich in ein Geſpräch mit unſereinem einläßt.“

„3 iſt wahr. Er geht uns völlig aus dem Weg.“

„Und iſt gerade ſo ein armer Teufel wie du und
hat er ſich ſogar ſeinen Rock ſelber
geflickt.“

„Geh zu! Na, das hätt' ihm ſchon die alte
Nannt auch noch getan. Aber freilich, er wird halt
zu ſtolz ſein zu einer Bitte.“

„Wahrſcheinlich. Er hat mir auch gleich den
Rücken gedreht, wie ich ihn bei ſeiner Schneider-
arbeit erwiſcht habi. Hätt' ſie halt nicht beim offenen
Fenſter machen ſollen. Am Sonntag war's, wie er
noch herunten gewohnt hat. Er hat jedenfalls ge-

meint, daß gar niemand mehr im Haus iſt. Aber
ich war halt doch noch da.“ Wieder lächelte Lehn-
hart auf ganz merkwürdige Weiſe.

„Na, laß ihn und tummle dich lieber. Oder

gehſt du nicht mit? Ich möcht' vorm Nachteſſen
noch ein biſſerl in die Luft kommen.“

Der andexe Gehilfe hatte wohl dasſelbe Bedürfnis,
denn etliche Minuten ſpäter verließen die zwei ſchon
das Haus.

Kneisl aber ging noch immer in dem allerdings
verwahrloſten, dennoch aber wunderſchönen Garten
umhex. So ganz, ſachte mar er jetzt in deſſen tief-
ſten Partien angelangt und ſtand nun an der hohen
Mauer, welche ſich, mehrere Winkel beſchreibend,
um das große Grundſtück ſchloß.

Es grenzte an zwei Seiten an Felder, an der
dritten Seite grenzte es an die Bezirksſtraße.

Dieſelbe war um dieſe Stunde immer ziemlich
ſtill, war überhaupt nur ſo xecht belebt, wenn Markt-
tag war. Jetzt lag ſie völlig ruhig da.

— 236 —

Kneisl ſchien ſich für dieſen Umſtand ſehr zu
intexeſſieren, denn er ſtand lange da und lauſchte.

Aber mit der Wahrnehmung ſeiner Ohren be-
gnügte er ſich nicht lange. Er wollte auch noch das
Zeugnis ſeiner Augen haben.

wo Kneisl ſich befand, von einem ſtarken, vielfach
mit Eiſen beſchlagenen Pförtchen unterbrochen, von
dem aus die Mauer ſich ſowohl nach rechts als auch
nach links noch reichlich hundert Schritte lang an
der Straße hinzog. Etwa zehn Schritte ſeitlich des
Pförtchens ſtand eine alte, knorrige Ulme. Sie war
einſt vom Blitz geſtreift worden und deshalb ſtarb
einer ihrer Zwillingsſtämme langſam ab. Er trieb
in dieſem Jahre überhaupt noch nicht, indeſſen der
geſunde Stamm ſchon reichlich ausgeſchlagen hatte.
Somit bot dieſer kahle Baumteil einen recht un-
erfreulichen Anblick, aber er beſaß eine Eigenſchaft,
welche ihn Herrn Kneisl wenigſtens für den Augen-
blick wertvoll machte: er bog ſich über die Mauer
und war ſehr leicht zu erſteigen. Einen bequemeren
Ausſichtsplatz über die nächſte Umgebung konnte
man ſich gar nicht denken.

Der Buckelige ſaß denn auch ſchon oben und bog
den Kopf über die Mauer.

Er zog ihn raſch wieder zurück, denn es kamen
zwei Männer rauchend und plaudernd auf der
Straße daher.

Kneisl hatte ſie auch ſchon erkannt, wiewohl ſie
noch ziemlich weit weg waren. Es waren Lehnhart
und Mohr, die beiden Steinmetzgehilfen.

Jetzt ließen ſich ihre Stimmen ſchon deutlicher
vernehmen, es wurden ſchon einzelne Wörter ver-
ſtändlich.

Eines davon bewog Kneisl, auf ſeinem Poſten
auszuharren „Verdächtig,“ hieß dieſes Wort.

„Was iſt dem braven Lehnhart denn verdächtig?“
dachte der Buckelige, und es beſchlich ihn dabei ein
unangenehmes Empfinden.

Er hörte danach auf ſeinem romantiſchen Lauſcher-
poſten folgendes Bruchſtück eines Geſpräches, welches
die zwei recht lebhaft führten.

„Daß er ſo viel ſchreibt, und mit ſeinen Brie-
fen immer ſelber zur Bahn läuft!“

„Geh, dahinter braucht doch gar nichts zu ſein.“

„Braucht nicht — aber kann was fein. Weißt,
in einem Haus, wie dem unſrigen, da gibt man
auf alles acht.“

„Je! Du denkſt am Ende gar an den Fran-
zoſen?“ lachte Mohr. „Biſt alſo auch ſo abergläu-
biſch wie die Nanni?“

Jetzt mußte Lehnhart ärgerlich ſein. „Narr,“
fagte er gereizt, „an unſeren Herrn denk' ich, und
daß man keinen von den Kerlen hat.“

„Na — und?“

„Und daß der Buckelige nicht umſonſt grad' jetzt
ins Haus gekommen iſt.“

„Ja, was meinſt du denn? Doch net — der
geiſtis ziemlich einfach veranlagte Mohr hielt mit
dem Reden inne.

Aber Lehnhart fuhr umſo lebhafter fort: „Daß
er einer von den zweien iſt? Nein, aber er ſchnüffelt
ſo viel hexum, es iſt irgend etwas mit ihm nicht
richtig, vielleicht iſt er einex von der Polizei.“

„Äber geh, was wär' denn bei uns auszukund-
ſchaften?“

„Weiß ich's?
gelernter Induſtriezeichner iſt er nicht.
alles ganz anders an als einer vom Fach.
werde —“

Was Lehnhart tun wollte, erfuhr der Horcher
nicht mehr, denn die Stimme verlor ſich ſchon in
der Ferne.

Kneisl ſtieg, nachdenklich geworden, zur Erde
nieder. Eine kleine Weile blieb er, die Hand auf
das Herz preſſend, ſtehen. Es war, als wolle er
deſſen heftiges Schlagen vor ſich ſelber verheimlichen.

Er mar aufgeregt, aber er gewann ſeine Ruhe
ſchon wieder. „Im ſſchlimmſten Falle dauert es ehen
länger,“ ſagte ex leiſe vor ſich hin, „ennoch aber
werde ich trachten, daß dieſer ſchlimmſte Fall nicht
eintritt.“

Jedenfalls iſt eines ſicher: ein
Er greift
Ich


vollführle er eine nicht weniger merkwürdige Hand-
lung.

Er zog einen ganz neuen Schlüſſel aus dex Taſche
und verfuchte es, damit das Gartenpförtchen auf-
zuſperren. Es gelang ganz gut.

Als er es wieder ſo geräuſchlos geſchloſſen, als er
es geöffnet hatte und dann den Schlüſſel wieder an
ſich nahm, war dieſer fettig. Kein Wunder, denn Kneisl
hatte ſchon etliche Tage zubor und auch noch am vorher-
gehenden Abend das Schloß und die Angeln der ſchon
ſeil längerer Zeit nicht mehr benützten Gartentür ſorg-
fältig eingeölt. ;

Es konnte der Fall eintreten, daß es ihm wün-
ſchenswert werden mochte, zu irgend einer Tages-
oder Nachtzeit raſch und ungeſehen aus dem Lansky-

ſchen Beſitz verſchwinden zu können. Für eben dieſen
Fall war nun geſorgt.

Den betreffenden Schlüſſel und auch noch einen
zweiten hatte Doktor Klinger nach den ihm zugeſand-


Herr Kneisl mar heute in den Befitz einer Poſt-
ſendung gelangt, in welcher auch die beiden Schlüſfel
enthalten geweſen waren

Nachdem er den einen erprobt hatte, begab er
ſich ins Haus zurück. ;

Es mar ihm heute xecht lieb, daß er, wie dies
immer zu geſchehen pflegte, ſein Nachteſſen allein
in ſeinem Zimmerx einnehmen konnte, denn Lehn-
harts Außeruͤngen hatten ihn doch ernſtlich beunruhigt.

Als er mit weniger Luſt denn ſoͤnſt gegefſen,
und Nanni das Geſchirr und die Speiſenreſle ab-
geholt hatte, zog er den Vorhang des Kammerfenſters
zu und überzeugte ſich davon, daß ein Einblick in
ſeine Kammer ausgeſchloſſen ſei, ſelbſt wenn jemand
— was Kneisl jetzt nicht für ausgeſchloſſen hielt,
2— — Dachfenſter aus ſein Tun überwachen
wollte.

Dann verſchloß er die Tür. Als er ſich der-
geſtalt vor einem Überraſchtwerden geſichert ſah,
ſperrte er den Schrank auf und fing an, ſeine Reiſe-
taſche zu packen. Er hatte auch dieſe, ſchon ſeit er
ſich in dieſem Hauſe befand, unter Verſchluß ge-
halten, und dazu mar ein ſehr triftiger Grund vor-
handen.

Dieſe Taſche enthielt nämlich verſchiedene kos-
metiſche Mittel, namentlich feine Schminken und ein
Haarfärbemittel, wie ſolche harmloſe techniſche
Zeichner für gewöhnlich nicht zu gebrauchen pflegen.
Und noch einige Gegenſtände enthielt die ſehr ge-
räumige, ganz neue, aber durch nichts auffallende
Ledertaſche. Einen Anzug aus leichtem, aber feſtem,
dunklem Stoff und eine ſehr breite, gürtelartige Vor-
richtung aus Gummi. Zu all dieſem legte Kneisl
ſein bißchen Wäſche und die ſonſtigen Kleinigkeiten,
welche er mit hieher gebracht hakte. Dann ſtellte
er die Taſche in den Winkel neben die Tür und
ſetzte ſich, nachdem er jene aufgeſperrt, zum Tiſche
und begann in der Zeitung zu leſen. Es wurde
ihm nämlich täglich eine ſolche aus Wien zuge-
ſchickt.

Daß er ſehr aufmerkſam las, konnte man nicht
behaupten, denn gar oft erhob er lauſchend den
Kopf und etliche Male ſtand er auf und tat einen
raſchen Blick in den Hof hinunter.

Es war ſchließlich zehn Uhr geworden, und noch
immer waren die Fenſter des Geſellenzimmers er-
leuchtet. ; '

Endlich — ſo gegen einhalb elf — wurden ſie
dunkel. Kneisl konnte annehmen, daß Mohr und
Lehnhart zur Ruhe gegangen ſeien.

Aber noch wollte ex ſſich eine Weile gedulden,
wiewohl es jetzt im Hauſe ganz ſtill geworden war.
Ruſtan nämlich, der Hofhund, zeigte ſich hente merk-
würdig unruhig. Foͤrtwährend raſſelte ſeine Kette
und zuweilen knurrte er oder ließ gar ein zorn-
ges Gebell hören Dann antwortetẽ ihm da und
dort ein Nachbarhund, und denen antworteten wie-
der andere Hunde, ſo daß ein ganz mexkwüxdiges
Konzert entſtand, ein Konzert, dem heute ſicherlich
nieniand fo viel Aufmerkfamkeit ſchenkte als der
buckelige Zeichner im Franzoſenhauſe. „.

Elf Uhr ſchlug es auf einem nahen Kixchturme;
da ftand Kneisl auf, verſicherte ſich noch einmal,
daß er gewiſſe Dinge bei ſich habe, 30g ſeinen über-
rock an und ſetzte den Hut auf, dann zündete er eine
winzige, gut verſchließhaxe Blendlaterne an, nahm
die Keifetaͤſche und verließ die Kammer. Er befand
fich jeht in einem langen, breiten, ſaalartigen Kor-
ridor, in welchen an den beiden Enden je eine
Rammer und in deſſen Langſeite fünf Zimmer
mündeten.

Vor der zweiten Tür machte ex Halt.

Es war ſehr finſter in dem Gange, deyn der
Himmel hatté ſich wieder dicht bewöltt. Kneisl
fand trotzdem nicht nur die Tür, ſondern auch das
Schlüſſelloch, ohne ſeine Laterne zu Hilfe nehmen zu
miüffen. War er doͤch nicht zum erſten Male durch
dieſe Tür gegangen-

8 4 ex fie fachte hinter ſich geſchloſſen hatte,
öffnete er eine der metallenen Wände ſeiner Laterne,
Sr tat ſie indeſſen nur fpaltweit auf und ſtellte ſie
dann auf den Tiſch, der ſich mitten ım Zimmer be-
fand. Dann war ſein Erſtes, daß er die hölzernen

enſterladen ſchloß.
* erſt 4 es ganz hell werden im Zimmer.

Es war ein elegantes Herxenzimmer, in deſſen
einer Ecke ein Schreibtiſch ſtand. Nur dieſer ſchien
Kneisl zu intereſſieren, denn er ging ſofort darauf
zu. Die Laterne darauf ſtellend, 30g er eINEN Bund
Dietriche aus der Taſche und öffnete ohne viel Aufent-
halt und Mühe eine nach der andexen der drei
Schubladen, welche das Möbel anſwies.

Eine derfelben enthielt nur Schmuck und allerlei
 
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