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heim gefühlt. Das beſtändige Zuſammenſein mit
der übellaunigen Mutter, die Goͤtt und alle Welt,
nur nie ſich ſelber anklagte über ihr „grauſames
Schickſal“, das viele Klatſchen der anderen Damen,
das ſtete Beobachtetſein — ein entſetzlicher Zuſtand,
aus dem ſie das Angebot, in Glückſtadt Hofdame
bei der jungverheirateten Erbprinzeß zu werden,
endlich erlöſte.

Aber was ſollte nun, wo ſie nie wieder nach
Glückſtadt zurückkonnte, aus ihr werden? Eine
andere Hofdamenſtelle ſuchen? Welchen ſtichhaltigen
Grund konnte ſie für ihr Scheiden aus Glückſtadt
angeben? — Ihre Geſundheit? Dieſer Vorwand
machte die Anhahme einer neuen Stelle von vorn-
herein unmöglich. Der wahre Grund aber mußte

ſtets Geheimnis bleiben. Das war ſie nicht nur
ſich ſelber, ſondern auch der Erbprinzeſſin ſchuldig.

„Wenn ich ein Mutterherz hätte, dem ich alles
anvertrauen, bei dem ich Rat, Troſt, Hilfe erbitten
dürfte!“ dachte Sitta ſchmerzlich, denn ſie würde
höchſtens Vorwürfe, ſicher keinen Troſt hören. Nein,
auch der Mutter mußte die Wahrheit ſorgfältig ver-
ſchwiegen werden. „Weiß ſie es, ſo weiß es bald
ganz Gelsheim!“ ſeufzte Sitta. Sie hörte das Ge-
tratſch förmlich, bis jede einzelne Stiftsdame von
der Liebe des Erbprinzen zu ihr wußte, ſie beſpöttelt,
bezweifelt oder beneidet hatte. —

Die große Stiftskutſche mit den gelben Rädern
raſſelte vor das langgeſtreckte, aus roten Backſteinen
aufgeführte Stiftsgebäude, das von einem großen,

viereckigen Hof umſchloſſen war. Das Gelsheimer
Stift lag etwma eine Stunde von einer größeren
Stadt in Mitteldeutſchland entfernt, beſaß einen
hübſchen, gutgepflegten Garten, auch Ackerland und
Wieſen. Einige der Damen, die landwirtſchaftliche
Intereſſen beſaßen, hielten ſich eine Kuh oderx auch
Hühner. Es entbrannte aber ſehr oft ein hitziger
Streit um verlegte Sier. Eine der Damen, ein
ältliches Fräulein v. Nauheim, ſtand im dringenden
Verdacht, die Hühnerſtälle zu beſchleichen und die
friſchen Eier auszutrinfen. Die Klagen drangen
bis zur Oberin, einer alten Gräfin Recke, welche
Recht ſprechen ſollte, die Wuttränen der Beſchuldig-
ten trocknen, das geſtohlene Hut erſetzen kurz
alle zufriedenſtellen mußte. Die Eierſtreitigkeiten

nahmen aber mit dex Zeit ſolche Ausdehnung an,
daß ſich die Schar der Damen förmlich in zwei
Feldlagex teilte: die, welche Hühner beſaßen, und
die, welche keine hielten. Tödlich berfeindet ſprachen
ſie kaum poch miteinander, bis die Oberin drohte,
Jämtliche Hühner zu ſchlachten und das Halten von
Geflligel für Zeit und Ewigkeit zu verbieten.
Was half das aber! Wenn der Hühnerkrieg ge-
ſchlichtet wurde, ſo gab es doch noch Rangſtreitig-
keiten: wer zuerſt zur Tür hinausgehen, bei Tiſch
neben der Oberin ſitzen, ſich zuerft Zucker nehmen
durfte und ſo weiter! Oder man ftritt ſich übeb die
abgeteilten Beete im Garten — wegen des Dungs,
den die zwei wohlgenährten Pferde der allgemeinen
Kutſche für die betreffenden Beete lieferten, wem der
koſthare Artikel heute gehören ſollte, wem morgen. —
Sitta ſah beim Ausſteigen viele graue, weiße
Und duntle Damenköpfe, mit und ohne Häubchen,
ſich aus den Fenſtern hiegen. Das erregfe ihr'ſo-
gleich eine üble Empfindung. Sie erwiderte das
Winken und Nicken flüchtig! Mit einem ungedul-

*

digen Seufzer ſtieg ſie die Treppe des Mittelgebäu-

Sperber auf der Jagd nach Suchfinken. (S. 484)

des, in dem die Zimmer ihrer Mutter lagen, in
die Höhe.

Frau v. Hohenthal kam der Tochter entgegen
und umarmte ſie! „Das iſt ja eine große Übex-
raſchung, liebes Kind! Hoffentlich bedeutet dein
Könimen nichts Unangenehmes. Es iſt ſo plötzlich
— mitten in der Saiſon! Oder ſollteſt du mir eine
erfreuliche Nachricht mitteilen wollen?“

Die unruhigen Augen forſchten in der Tochter
Geſicht. Nein — die fah allerdings nicht wie eine
glückſtrahlende Braut aus, nur ſehr leidend, ab-
geſpannt und erſchöpft.

„Mach es dir bequem, Sitta. Willſt du noch
etwas eſſen?“ ;

„Danke fehr.“

„Wir ſoupieren ja auch ſchon um ſieben Uhr.“

Ich niöchte lieber nicht in den Speiſeſaal gehen,
Mama. Ich fühle mich nicht wohl.“

„Ach, das ift eine kleine Abfpannung von der
Reife, das gibt ſich wieder. Zieh dich nur bald
ım. Das exfriſcht. Irgend ein Kleid, das dir gut
ſteht. Dies dunkelgraue Koſtüm macht dich ſchrecklich



Röcke? Hier ſieht man natürlich nichts von NeueN
Moden.“? Frau v. Hohenthal ſeufzte Fuldis
„überhaupt auf alles muß ich hier verzichten!
mwenn deiu Vater beſſer für nüs geſorgt hätte, dann
brauchte ich jetzt nicht in dem alten Weiberſpittel
zu ſihen, ſondern könnte ſtandesgemäß leben, wie
e8 ſich für meinen Rang gehört.“ *
Sitta biß fich auf die Lippen, denn einen Tadel
über den geliebten Vater anhören zu müſſen— tat ihr
Sie hatte es aber längſt aufgegeben,
Das entfeſſelte nur

der Mutter zu widerſprechen. jejjelte
Vorwürfen,

eine Flut voͤn Tränen, Klagen und
nützte aber gar nichts. ; —

„Wenn és dir liebiſt, Namg, fann ich mich ja
umziehen und mit zum Abendbrot nuntergeher,
Ich wäre allerdings lieber mit dir allein geweſen,
fagte Sitta Janft.

„Natürlich iſt
merjungfer habe ich leider nicht.
er heljenu ! — * ;

Der Koffer ſtand bereits in dem kleinen Toiletten-

es mir lieb, Sitta. Eine Kam-
Ich werde dir bei
 
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