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gedeckt werden. Das geſchieht ſtets wegen der
Motten.“ —

„Die können meinetwegen den ganzen Krempel
freſfen; viel haben ſie ſo wie ſo nicht übrig gelaſſen.“

Abex Felix ließ nicht locker. Er hüllte das rote
und das hlaue Kanapee ein und ſah ſich triumphie-
rend um.

Der Anblick war ſchauerlich.

Auf dem Fußboden lagen und ſtanden die leeren
Bierflaſchen im Chaos durcheinander, die Luft war
mit Tabakrauch angefüllt, ſo daß man Backſteine
daraus formen konnte, das Gaslicht glühte da-

zwiſchen wie ein Johanniswürmchen.
„Es macht ſich,“ ſagte Felix; „jede Hausfrau
würde ihre Freude daran haben. — Biſt du fertig?“

„So ziemlich. Koffer, Hut, Schirm, Geld —
es iſt alles beiſammen. Wollen wir nicht die Vor-
hänge herunterlaſſen?“

„Auch noch! Hänge doch lieber eine Papptafel
hingus: „Hier kann eingebrochen werden.“ Denke
an die Villa in Wannſee!“

„Meinetwegen. Wer nimmt den Korridorſchlüſſel
an ſich?“

— 531—

„Wer zuerſt zurückkommt.“

„Ja, wer wird das ſein?“

Felix dachte nach.

„Die Sache iſt kritiſch. Knobeln wir s aus.
Hier habe ich den Schlüſſel und hier eine Zigarre.
Was willſt du?“

„Die Zigarre.“

Hat der Menſch ein Glück! So u Schlüſſel
bohrt die ganze Taſche kaput. Na, denn man jüh!“

Sie drehten das Gas aus, nahmen ihre Sachen
und ſchloſſen ab.

Unten auf der Straße blieb Egon ſtehen. „Es
iſt noch zu früh. Eigentlich hätten mir zum Ab-
ſchied noch ein bißchen nach der Scheibe ſchießen
können“

„Du würdeſt doch nur ein Loch daneben machen.
Denke nur, zwölf Flaſchen Patzenhofer —“

„Alſo nicht. Und noch eins: ſollen wir der
Müllern ſagen, daß die Wohnung leer ſteht?“

„Sie wird es ſchon merken, man kann's ja auch
ſchreiben. — Alſo grüß mir Italien.“

„Grüß mir Holſtein mit ſamt dem Bäslein!“.

Sie trennten ſich, der eine ging nach dem An-

halter, der andere nach dem Lehrter Bahnhof.
Keiner hatte geſehen, daß hinter der nächſten Ecke
ein Schatten verſchwand. Vielleicht hielten ſie ihn
auch für ihren eigenen.

€ war auf dem Anhalter Bahnhof zu dieſer
frühen Stunde ſehr ungemütlich. Die Nachtkellner
ſchliefen hinter dem Büfett, und die wenigen Glüh-
lichter kämpften mit der hereinbrechenden Morgen-
dämmerung.

Egon fror. Er hatte das Billett nach Baſel in
der Taſche, und die Ausſicht auf eine ſchöne Reiſe
hob ſeine Stimmung, aber es war ein Unſinn ge-
weſen, ſich dieſe Nacht um die Ohren zu ſchlagen.
Ein ſpäterer Zug hätte es auch getan, er hattè ja
Zeit vor ſich und konnte behaglich reiſen, wie die
jungen Hochzeitspaare.

Der letzte Gedanke ſtimmte Egon faſt wehmütig.
Gewiß, es war ja eine nette Sache, ſo frauk und
frei in die Welt hinauszugondeln, überall, wo es
ſchön war, auszuſteigen, überall, wo es langweilig
wurde, abzudampfen; es mar ein modernes Gefühl,
keine Menſchenſeele nach ihrem Willen zu fragen,


auf den Expeditionen ſich nicht mit Koffern zu pla-
gen und auf dem Zoll nicht mit Seide und Spitzen.
Und dennoch — ſo ’n junges Weibchen an der Seite,
vier Augen für die Schönheit der Natur, zwei Herzen
für die einſamen Stunden — es wäre fürwahr auch
nicht zu verachten geweſen trotz aller Sermone, die
gelegentlich im Klub der Haͤgeſtolzen abgehalten
wurden.

Egon ließ ſich eine Taſſe Kaffee geben und
träumte vor ſich hin. Draußen hörte man das
Rufen der Beamten, die den Zug zuͤſammenſtellten,
drinnen wurden die Lichter eines nach dem anderen
ausgedreht.

Da betrat eine Dame den Warteſaal und ging
dicht an Egon vorüber in das für ihr Geſchlecht
reſervierte Zimmer; ſte trug ein elegantes dunketl-
graues Reiſekoſtüm und hatte einen kleinen flachen
Koffer in der Hand.

Das knapp anliegende Kleid verriet jugendliche
Formen, aber man konnte ihr Geſicht nicht erfennen;
der obere Teil- desſelben wurde von einem dichten
Schleier wie von einex Halbmaske bedeckt, ſo daß
es faſt den Anſchein hatte, als wolle ſie ſich vor
neugierigen Blicken ſchützen, obwohl die für eine
einzelne Dame etwas auffällige Reifeſtunde hiegegen
hinreichende Gewähr bot.

Egon hatte gar nicht aufgeblickt, als die Fremde

ſich ſeinem Platze näherte, und rückte nur mechaniſch

zur Seite, weil Tiſche und Stühle den Durchgang
— —

erſchwerten; aber ſie mußte dennoch das Kleid zu-
ſammenraffen und ſtreifte dabei mit der Hand den
Arm des jungen Mannes.
‘ „Bardon!“ ſagte dieſer und drehte ſich um.
Dieſe flüchtige Berührung hatte ein gaͤnz ſonder-


innerung an irgend etwas aus weiter Ferne, ein
körperliches Behagen verbunden mit leichtem Nerven-
reiz. Anhänger des Mesmerismus würden vielleicht
von magnetiſchen Einflüſſen geſprochen haben, wäh-
rend Egon geneigt war, dieſes Gefühl mit den Ge-
danken in Verbindung zu bringen, die ſoeben ſein
Hirn durchkreuzt hatten.

Jedenfalls beſaß er jetzt für den leeren Früh-
zug eine Reiſegefährtin, mit der ſich einige Stunden
verplaudern ließen, und dieſer Gedanke rüttelte ſeine
Lebensgeiſter auf.

Er ſah nach dex Uhr, fand noch ausreichende
Zeit und begab ſich in die Toilette, um ſeinen
außeren Menſchen notdürftig herzurichten. Der
Kragen war noch ziemlich ſauber, uͤnd der Barbier
hatte geſtern ſeine Schuldigkeit getan, aber das Ge-
ſicht war blaß und übernächtig, und unter den
Augen lagen dunkle Schatten. -
Egon fuhr mit dem ganzen Kopf in die Schlffel
und ſchnob wie ein Walfiſch; als er ſich dann tüch-
abgerieben hatte, kam etwas Farbe zum Vor-

ein.

Draußen wurde inzwiſchen abgerufen. Als Egon

den Bahnſteig betrat, blickte er ſich nach der Frem-
den um; er ſah noch gerade einen Zipfel ihres
grauen Kleides im Wagen verſchwinden Und kletterte
tapfer hinterdrein.

Dann blieb er im Seitengang am Fenſter ſtehen,
eis der Zug ſich in Bewegung ſetzte, verſtaute ſeinen
Handkoffer in der nächſten leeren Abteilung und
ſchritt dann langſam den Korridor entlang, um das
Terrain zu unterſuchen.

Sie mußte natürlich irgendwo ſitzen, und zwar
aller Wahrſcheinlichkeit nach in der geheiligten
Damenabteilung.

Der Wagen mar leer, im Damencoupé keine
Menſchenſeele Aber in der allerletzten Abteilung
— für Aichtrauchex ſaß die Geſuchte am Fenſter,
hatte die umgehängte Kuriertaſche geöffnet und
knabberte an einem Stück Schokolade.

Die erſten Strahlen der aufgehenden Sonne
überfluteten ihr jetzt vom Schleier befreites Geſicht,
und Egon hielt ſich an der Meſſingſtange des Gang-
fenſters feſt, um nicht vor Überraſchung umzufallen.

Es war Margot! :

Kein Zweifel — da ſaß ſie in ihrer ganzen ver-
führeriſchen Jugendſchönheit, und ſie waͤr noch
ſchöner geworden, wenn das überhaupt möglich ſein
konnte. Sie hatte das Hütchen mit dem dunklen
Schleier abgenommen und neben ſich gelegt, die ge-
waltige Maſſe der ſchwarzen Haare war genau wie
damals in einen mächtigen Griechenknoten geſchürzt,
 
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