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„Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist.“
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)
Einleitung
Im Frühjahr 1912 reiste Eberhard Grisebach, Philosoph, Kunst-
sammler und Mäzen zahlreicher expressionistischer Künstler,
nach München. Dort lernte er den Maler Wassily Kandinsky
kennen, mit dem er, wie er seiner Schwiegermutter Helene Speng-
ler in die Schweiz berichtete, überaus anregende Gespräche über
die neueste Kunst führte. Noch ganz im Banne des in München
Gesehenen und Gehörten, schrieb er nach seiner Rückkehr nach
Jena an Helene Spengler:
„Es liegt ein stark primitiver Zug in all dieser Kunst und Rückgang
auf die Gothik und das Mittelalter.
Aus heutiger Sicht muß Grisebachs Urteil überraschen. Wir
sind gewohnt, den Expressionismus als Beginn einer Moderne zu
begreifen, die sich von aller Tradition losgesagt hat und sich
ausschließlich über ihren Gegenwartsbezug definiert. Daß gerade
die Gotik, die im 19. Jahrhundert zu einem ideologischen und
formalen Steinbruch verkommen war, bei dieser „Kunstrevolu-
tion“ Pate gestanden haben soll, mag zu diesem Bild nicht recht
passen. Die Zeitgenossen indes sahen die Dinge anders: Die
Vorstellung, die expressionistische Kunst gehe auf das Mittelalter
zurück, stammte nicht von Grisebach selbst, vielmehr dürfte er
sie von seinen Münchner Gesprächspartnern, den Künstlern aus
dem Kreis des Blauen Reiters, übernommen haben. Was zunächst
die Sichtweise einer kleinen Gruppe war, wurde in den folgenden
Jahren Gemeingut. Als Kunstrichtung mit engen Verbindungen
zur Malerei des 15. Jahrhunderts präsentierten im Sommer 1912
die Veranstalter der Internationalen Sonderbund-Ausstellung in
Köln den Expressionismus der Öffentlichkeit. Bei Kriegsaus-
bruch hatte er bereits die Aura eines künftigen deutschen Natio-
nalstils erworben, der angetreten sei, das Erbe des Mittelalters zu
übernehmen. Die Gotik war zwar nicht der einzige historische
Bezugspunkt, den sich die Expressionisten wählten - letztlich
nahmen sie alle nicht-klassische und nicht-naturalistische Kunst,
1) Brief vom 29.3.1912 an Helene Spengler (Grisebach 1962, S. 22). In den Fußnoten
abgekürzte Literaturangaben werden in der Bibliographie vollständig aufgeführt.
 
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