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Das Wesen der Gotik wird neu entdeckt:
Wilhelm Worringers Formprobleme der Gotik
Beitrag zur kunstgeschichtlichen Methodendiskussion ...
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete Gotikforschung in
erster Linie die Auseinandersetzung mit Architekturgeschichte;
den bildenden Künsten wandte sich das Interesse seit den achtzi-
ger Jahren des 19. Jahrhunderts nur zögernd zu und blieb bis ins
zweite Jahrzehnt unseres Jahrhunderts vergleichsweise gering.
Die Aufgabenstellung läßt sich dabei auf drei Hauptpunkte re-
duzieren: Es ging um die Sicherung und Inventarisierung des
Denkmälerbestandes, um die Klärung der Frage nach der Her-
kunft der Gotik mit Hilfe motivgeschichtlicher Untersuchungen
und schließlich um die Beleuchtung der kulturhistorischen Be-
dingungen der Epoche.1
Gegen diesen - wie er ihn nennt - „historischen Realismus“
seiner Kollegen zog Wilhelm Worringer mit den 1911 erschiene-
nen Formproblemen der Gotik zu Felde. Die „bloße Eruierung und
Fixierung der historischen Fakten“2 und die Schilderung des
kulturellen Umfelds von Kunstwerken könne bestenfalls Detail-
aspekte beleuchten, nicht aber dem „Wesen“ gotischer Schöpfun-
gen gerecht werden. Mit seiner „intuitiven Geschichtsforschung“3
hingegen glaubte Worringer die Stilperiode „synthetisch“ erfas-
sen zu können; erste Versuche in dieser Richtung hatte er bereits
1907 in seiner Dissertation Abstraktion und Einfühlung 4 und 1908
in einem Werk über Lukas Cranach5 unternommen. Sämtliche
Erscheinungsformen der Gotik, angefangen beim „kleinsten go-
tischen Gewandzipfel“ bis hin zum Kathedralbau begriff er als
Resultat eines einzigen, für alle Gattungen durchgängig existen-
ten Gestaltungswillens.6 Diesen Geist der Gotik zu rekonstruieren
setzte er sich zur Aufgabe: Nur so könne man zu einem tieferen
Verständnis der Epoche und zu einer objektiven Wertung von
1) Zur Gotikforschung bis zur Mitte der zwanziger Jahre vgl. Ernst Gall, Die gotische
Baukunst in Frankreich und Deutschland, Leipzig 1925, S.1-8 und Frankl 1923, S.
10-23
2) Worringer 1911, S. 2
3) ebd., S. 4
4) Diese Dissertation erschien 1907 als Privatdruck und wurde erst ein Jahr später als
Verlagsveröffentlichung herausgebracht. Zitiert wird im folgenden nach der Neu-
ausgabe aus dem Jahr 1981.
5) Worringer 1908
6) Worringer 1911, S. 5
 
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