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Der Geist der Gotik und die
Utopien der Nachkriegsjahre
Nachkriegsexpressionismus
„Eucharistisch und tomistisch,
Doch daneben auch marxistisch,
Theosophisch, kommunistisch,
Gotisch kleinstadt-dombau-mystisch,
Aktivistisch, erzbuddhistisch,
Uberöstlich taoistisch,
Rettung aus der ‘Zeit-Schlamastik
Suchend in der Negerplastik,
Wort- und Barrikaden wälzend,
Gott und Foxtrott fesch verschmelzend, —
Dazu kommt (wenns oft auch Last ist),
Daß man heute Päderast ist...
Also lautet spät bis früh
Unser seelisches Menu.

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Franz Werfels Verse - laut Regieanweisung mit „operettenhafter
Zungenfertigkeit“ vorzutragen - zeichnen ein boshaftes, aber
treffendes Porträt des trendbewußten Zeitgenossen der ersten
Nachkriegsjahre. Sie charakterisieren zugleich eine Epoche, die in
sich zutiefst Widersprüchliches vereinte: Weltflucht und politi-
schen Aktivismus, religiös geprägten Irrationalismus und revolu-
tionären Elan, rückwärtsgewandte Idylle und utopische Gesell-
schaftsentwürfe.
In dieser Atmosphäre konnte die expressionistische Kunst ihre
bis dahin größten Triumphe feiern. Ihr Siegeszug begann im
letzten Kriegsjahr mit spektakulären Ausstellungserfolgen und
setzte sich nach Kriegsende im Zeichen der Novemberrevolution
weiter fort. Zwar reagierte das Publikum auf die Ausstellungen
einzelner Gruppen noch immer feindselig,1 2 doch fanden die
Künstler zunehmend Rückhalt bei Museumsleuten, im Kunsthan-
del und in der Kunstkritik. Der Expressionismus wurde zur herr-
1) Franz Werfel, Spiegelmensch. Magische Trilogie, München 1920, S. 130
2) Als 1919 auf der Großen Berliner Kunstausstellung mit einer Abteilung der
Novembergruppe die Kunst des Nachkriegsexpressionismus erstmals einer breite-
ren Öffentlichkeit vorgestellt wurde, soll es zu tumultartigen Szenen, ja sogar zu
Tätlichkeiten gegen einzelne Exponate gekommen sein; vgl. N. N. (Curt Glaser?),
Ausstellungsbericht, in: Kunstchronik NF. 30, 1918/19, S. 1002f.
 
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