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Expressionismus und Gotik
als deutsche Nationalstile
Wahl der Vorfahren
Marit Werenskiold hat in ihrer Analyse zeitgenössischer Expres-
sionismuskonzepte zwei unterschiedliche Varianten beobachtet,
von denen sich die eine schwerpunktmäßig der Vorkriegszeit, die
andere den Jahren während und nach dem Ersten Weltkrieg
zuordnen läßt. Die erste ist in ihrer Ausrichtung international und
umfaßt avantgardistische Strömungen unterschiedlicher Couleur
aus Frankreich, Italien, Rußland, Skandinavien und Deutschland.1
Die zweite subsumiert unter den Begriff „Expressionismus“ aus-
schließlich deutsche Künstler, namentlich die Maler der Brücke
und den Kreis um den Blauen Reiter.2
Je nachdem, ob die Definition national oder international ver-
standen wurde, ändert sich auch die Auswahl der „Ahnen“: mal
werden Vorfahren aus aller Herren Länder, mal nur die deutsche
Vergangenheitskunst als Präfiguration der Moderne zitiert.
Doch nicht nur in der Auswahl der Ahnen unterscheiden sich die
beiden Konzepte, sondern auch in der Qualität des Traditionsan-
spruchs. Die Vertreter des internationalen Konzepts verstanden
unter den Begriffen Ausdruckskunst, Abstraktionsdrang und gei-
stige Weitsicht in erster Linie überzeitliche und übernationale Ka-
tegorien, die den Expressionismus mit den unterschiedlichsten
Epochen und Völkern verbinden. Einen konkreten historischen
Bezugspunkt zu setzen, lehnten sie ausdrücklich ab. Man könne
den Versuch, „in der Geschichte ein Paradigma für die Gegenwart
aufzustöbern“, getrost einem „habilitierenden Trockenbewohner“
überlassen, erklärte Walter Serner 1913; dem neuen „Künstlertum,
das seine Wappenschrift aus dem Uranbeginn der Weltfurcht holt
und aus den Tiefen der gräßlichsten Läuterungen“ werde man mit
historischen Vergleichen sowieso nicht gerecht.3 Die nationale Va-
riante hingegen nahm eine rassisch bedingte Veranlagung als über-
zeitliche Konstante an; für sie wurde die Gotik, in der sie den
Höhepunkt nordischen, germanischen oder deutschen Kunstschaf-
fens sah, zum Maßstab und zum Vorbild der neuen Kunst.
1) Werenskiold 1984, S. 36-38
2) ebd., S. 49-54
3) Serner 1913, S. 613
 
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