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Verlag Bruno Cassirer
Almanach: auf das Jahr ... — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.70232#0055
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DIE SEELE RUSSLANDS / AUS DOSTO-
JEWSKIS ROMANEN

Stepan Trofimowitsch nahm in dem Sessel auf der
Bühne Platz, während ringsum im Saal noch heftige
Unruhe herrschte. Aus den vorderen Reihen trafen ihn
nicht eben freundliche Blicke, man hatte im Klub in
letzter Zeit für ihn nicht mehr die alte Achtung und Vor-
liebe. Es war schon ein Glück, daß man ihn nicht einfach
auszischte. Ich hatte seit dem Tage vorher den seltsamen
Gedanken, daß man ihn gleich beim ersten Auftreten aus-
pfeifen würde. In dem Trubel hatte man ihn anfangs
gar nicht bemerkt. Er war blaß im Gesicht: seit zehn
Jahren hatte er vor keinem Publikum mehr gestanden.
Nach seiner Erregung und seinem ganzen sonstigen
Gebahren war es mir klar, daß er sein diesmaliges Auf-
treten als eine Entscheidung des Schicksals oder etwas
in der Art ansah. Das war es, was ich fürchtete. Ich
liebte diesen Menschen aufrichtig, und man kann sich
vorstellen, was ich empfand, als er den Mund auftat
und ich seinen ersten Satz vernahm!
„Meine sehr verehrten Herrschaften,“ begann er
plötzlich, zum Äußersten entschlossen; mit schriller
Stimme, „meine Damen und Herren! Heute morgen
noch lag vor mir eins dieser verbotenen Blättchen, die
neuerdings hier bei uns herumflattern, und ich stellte
mir zum hundertstenmal die Frage: worin besteht ihr
Geheimnis?“
Der ganze Saal verstummte plötzlich, und aller
Augen wandten sich nach ihm hin, einige mit recht
ängstlichem Ausdruck. Man mußte zugeben, daß er
 
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