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Almanach 1920
Selbstvertrauen lag, ließ er seinen Blick über den erreg-
ten Saal hin schweifen und schien sehr erfreut über den
herrschenden Wirrwarr. Es machte ihn nicht im ge-
ringsten verlegen, daß er mitten in einem solchen Chaos
reden sollte, er war im Gegenteil sichtlich froh darüber.
Und seine freudige Stimmung fiel so sehr auf, daß so-
gleich aller Blicke sich ihm zuwandten.
„Was will der noch?“ wurde gefragt — „was ist
denn los? Sst! Was will er uns erzählen?“
„Herrschaften,“ schrie der Redner, an den Rand der
Bühne vortretend, aus ganzer Kraft, mit derselben krei-
schenden Weiberstimme, wie Karmasinow sie hatte,
jedoch ohne das vornehme Lispeln — „Herrschaften!
vor zwanzig Jahren, als wir am Vorabend des Krieges
mit halb Europa standen, war Rußland das Ideal aller
Staatsräte und Geheimräte. Die Literatur stand im
Dienste der Zensur; in den Universitäten lehrte man
die Wissenschaft des Exerzierens; das Heer war in eine
Ballettruppe verwandelt, und das Volk zahlte seine
Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigen-
schaft. Der Patriotismus bestand darin, daß man vom
Lebendigen und Toten Schmiergelder nahm. Wer keine
nahm, galt als ein Empörer, der die Harmonie störte.
Die Birkenwälder konnten nicht Ruten genug liefern,
um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Niemals jedoch
hat Rußland, während seiner ganzen tausendjährigen
Geschichte, so sinnlos sie auch war, einen solchen Gip-
fel der Schande erreicht . . .“
Er reckte die Faust empor, fuchtelte damit drohend
in der Luft und ließ sie plötzlich grimmig niedersausen,
als wenn er einen Gegner zu Staub zermalmte. Von
Almanach 1920
Selbstvertrauen lag, ließ er seinen Blick über den erreg-
ten Saal hin schweifen und schien sehr erfreut über den
herrschenden Wirrwarr. Es machte ihn nicht im ge-
ringsten verlegen, daß er mitten in einem solchen Chaos
reden sollte, er war im Gegenteil sichtlich froh darüber.
Und seine freudige Stimmung fiel so sehr auf, daß so-
gleich aller Blicke sich ihm zuwandten.
„Was will der noch?“ wurde gefragt — „was ist
denn los? Sst! Was will er uns erzählen?“
„Herrschaften,“ schrie der Redner, an den Rand der
Bühne vortretend, aus ganzer Kraft, mit derselben krei-
schenden Weiberstimme, wie Karmasinow sie hatte,
jedoch ohne das vornehme Lispeln — „Herrschaften!
vor zwanzig Jahren, als wir am Vorabend des Krieges
mit halb Europa standen, war Rußland das Ideal aller
Staatsräte und Geheimräte. Die Literatur stand im
Dienste der Zensur; in den Universitäten lehrte man
die Wissenschaft des Exerzierens; das Heer war in eine
Ballettruppe verwandelt, und das Volk zahlte seine
Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigen-
schaft. Der Patriotismus bestand darin, daß man vom
Lebendigen und Toten Schmiergelder nahm. Wer keine
nahm, galt als ein Empörer, der die Harmonie störte.
Die Birkenwälder konnten nicht Ruten genug liefern,
um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Niemals jedoch
hat Rußland, während seiner ganzen tausendjährigen
Geschichte, so sinnlos sie auch war, einen solchen Gip-
fel der Schande erreicht . . .“
Er reckte die Faust empor, fuchtelte damit drohend
in der Luft und ließ sie plötzlich grimmig niedersausen,
als wenn er einen Gegner zu Staub zermalmte. Von