Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
IM

dieses große Ausdrucksmittel Lionardos aufmerksam gemacht; er meint, daß
gerade dem italienischen Künstler dieses Motiv nahelag, da seine Nation
sich vorzugsweise einer lebhaften Gebärdensprache bediene und mit allen
Gliedern an Gefühlen und Gedanken Anteil nehme. And wie lange hat es
dennoch gedauert, bis ein großer Künstler zu dieser uns psychologisch selbst-
verständlich erscheinenden Charakterisierung der Menschen griff!
Wenn wir heute in das trübe unwirtliche fteiectorium 8. Nnrin äelle
Oru^ie vor Lionardos Meisterschöpfung treten, so haben wir zuerst den Trost,
daß das Gemälde doch nicht so lamentabel ausschaut, wie unsere Eltern es
gesehen und geschildert haben. Wir sind ja durch die früheren weißfleckigen
Photographien auf das Schlimmste vorbereitet; nun finden wir aber, daß
feinsinnige Künstlerhand diese abscheulichen Narben leicht getönt und in un-
endlicher Mühe die einzelnen Freskostückchen gereinigt und wieder zusammen-
gefügt hat, eine Mosaikarbeit, die dem Ganzen wieder ein eindrucksvolles
Aussehen verleiht. Aber zum Erkennen der Einzelheiten sind wir auch weiter-
hin auf das Vergleichen mit den großen alten Kopien angewiesen, die an den
Längswänden des Saales hängen. Auch die Gebärdensprache der Hände ist
auf dem Original stellenweise zu verdorben, als daß wir nicht bei den Nach-
bildungen Rat holen müßten.
Wie wir nun an den Kopien unser Augenmerk auf die Hände richten
und ihren Bewegungsreichtum bewundernd genießen, wandelt uns die Lust
an, die Hände zu zählen, und mit pedantischem Behagen konstatieren wir
26 Hände. Also alle 13 Personen zeigen ihre beiden Hände: welcher Reich-
tum! welches künstlerische Wagnis! Sollte es wirklich dem Genie Lionardos
gelungen sein, die gewaltige Aufgabe der Händedarstellung, die er als Erster
sich so umfassend stellte, in gleichmäßig vollendeter Weise zu lösen? Zwischen
Original und Kopie wandert nun Schritt und Blick hin und her, und mit
Entzücken genießt mau die Mannigfaltigkeit der Gesten, die zusammen mit
dem Gesichtsausdruck unverkennbar die Empfindungen der Dargestellten erraten
lassen. Goethe ist in klassischer Weise dieser psychologischen Charakterisierung
nachgegangen und hat uns in seiner wunderbaren Sprache unübertrefflich
geschildert, welche Gedanken uns diese Köpfe und Hände der Männer ver-
mitteln, wenn er auch die eine oder andere Gebärde falsch oder von unserem
Enipfinden abweichend deutete.
Ob Goethe oder Lionardo, von der Kritik können wir Menschen von
heute ja doch nicht lassen, wenn sie auch einem so zerstörten Werk wie dem
Abendmahl gegenüber noch so unsicher und vor einem Genius wie Lionardo
noch so unpassend sein mag. And so muß es heraus, daß einige der
Gebärden uns eindrucksvoller, mächtiger erscheinen als andere, daß wir auch
verschiedene Hände für zeichnerisch wenig glücklich erfunden halten. Nicht
als ob wir uns nicht an manchen stillen Händen in dem Bild freuten: wie
schön sind die des Bartholomäus und des Johannes! Aber muß es nicht
naturnotwendig bei solcher Fülle auch problematische Hände geben? Nach
Form und Ausdruck problematisch. Derart erscheint uns die linke Hand des
 
Annotationen