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V. 1 und 2; hierauf Gebet und Textverlesung im Altar. Daran schloß sich
die Aufführung der Kantate, die etwa 25 Minuten dauerte. Während
des Schlußchores betrat der Prediger die Kanzel. Er setzte sich die Auf-
gabe, erstens die Gemeinde mit Bachs Bedeutung im allgemeinen bekanntzu-
machen, zweitens ihr eine Auslegung der gehörten Kantate zu geben, beides im
Anschluß an den Episteltext des Sonntags Röm. 12, 6/16. Nach der
Rede kam Schlußgebet und Segen; die Gemeinde sang: Noch sing ich hier
aus dunkler Fern, V. 1 und hörte das Nachspiel (Fuge ^-clur von Bach)
lautlos an ihren Plätzen an. Vielleicht hätte der Eindruck des Ganzen noch
gesteigert werden können dadurch, daß zwischen Predigt und Schlußgebet ein
Gemeindevers eingeschaltet worden wäre. Hätte hier die Gemeinde den
Vers: „Herr, wie du willst, so schick's mit mir" angestimmt, so wäre dies das
feierliche Amen auf den Gedanken der Kantate gewesen.
Der äußere Erfolg war über alles Erwarten günstig. Lang vor Beginn
war die Kirche gefüllt, ja überfüllt; viele mußten wegen Platzmangels um-
kehren. Auch das Opfer, von welchem die Kosten bestritten werden mußten,
war dank dem Entgegenkommen der Mitwirkenden mehr als ausreichend; es
fielen 371 M., darunter nicht etwa Gold, sondern in der Hauptsache Mark-
und 50 Pfg.-Stücke, sonst Nickel. Aber auch mit dem inneren Erfolg, dem
tiefgehenden Eindruck bei den Hörern konnte man nach Aeußerungen maß-
gebender Persönlichkeiten sehr wohl zufrieden sein.
Daß bei der Einfügung einer Kantate in den Gottesdienst das
gesprochene Wort, die Rede nicht entbehrt werden kann, ergibt sich schon
daraus, daß eine solche Kantate nur 20—25 Minuten dauert. Ebenso na-
türlich ist die andere Forderung, daß die Rede einheitlich auf den Ton der
Kantate gestimmt sein muß, was gar nicht schwer ist, da die Kantaten ja
den religiösen Grundgedanken schon enthalten und es nur darauf ankommt, ihn
für die Hörer herauszuholen und ihnen deutlich zu machen. Der musikalische
Pfarrer wird dazu schon durch das Anhören der Proben instand gesetzt
sein; ein unmusikalischer wie ich, wird dazu allerdings die Beihilfe seines
Organisten nicht entbehren können. So aber, wenn Musik und Rede sich
gegenseitig ergänzen, beide eine geschlossene Einheit bilden und eins das
andere in der Wirkung steigert, muß doch der Eindruck viel tiefer und klarer
sein, als wenn in einem gewöhnlichen Kirchenkonzert mehrere Kantaten oder
sonst verschiedene geistliche Musikstücke aneinandergereiht werden, in welchem
Fall immer der Eindruck der nächsten Nummer den der vorhergehenden
verwischt, der weniger Musikverständige den Wald vor Bäumen nicht mehr
sieht. Solche Kantatengottesdienste erscheinen mir wie eine Erfüllung dessen,
was nach den dunklen Psalmenüberschriften einst dem frommen Israeliten
dargeboten wurde oder vorschwebte.
Mancher hielte es vielleicht für richtiger, die Rede der Aufführung
vorangehen zu lassen, damit die Gemeinde im voraus wüßte, was sie zu
hören bekommt. Da wir aber an den Kirchtüren die Programme mit voll-
ständigem Text unentgeltlich verteilen ließen, war jedermann in den Stand
 
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