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Kenner verblüfft und Reklame macht. Kunstgriffe und Virtuositäten bezahlen
sich am besten. „Also widmen Tausende von Menschen von Jugend auf ihr
ganzes Leben, um möglichst schnell die Tasten oder die Saiten berühren zu
lernen, andere um jede Phrase auf jegliche Art umzuwenden und auf jedes
Wort einen Reim zu finden. And solche Menschen, die oft sehr gut und
klug und zu jeder nützlichen Arbeit fähig sind, verwildern in diesen aus-
schließlichen, sinnberaubenden Beschäftigungen, stumpfen ab gegen alle ernsten
Erscheinungen des Lebens, werden einseitige, selbstzufriedene Spezialisten, die
nur die Beine, die Finger oder die Zunge zu drehen verstehen."
Der dritte Anstoß ist der, daß die Kunst durch diese Entwicklung auf-
gehört hat, Volks- und Menschheitssache zu sein, daß sie nicht bloß tatsäch-
lich, sondern mit Bewußtsein bestimmten Kreisen ausschließlich dienen will,
in der Renaissancezeit den Fürsten, dem Adel, dann den auserwählten
schönen Geistern, dem gebildeten Publikum, endlich gar den „Aebermenschen".
Tatsächlich ist die Kunst eben zur Dienerin derer geworden, die sie bezahlen,
rechnet nur noch darauf, von ihnen verstanden zu werden, oder vielmehr
ihnen den Genuß zu bereiten, den sie schätzen und zu honorieren bereit sind.
Sie ist in die Knechtschaft der müßigen Geldmenschen geraten und wird der
Masse der Menschen, nicht bloß den Millionen außerhalb Europas, sondern
auch den 99"/g, die das arbeitende Volk bilden, ewig unverständlich bleiben,
trotz Volksbibliotheken nnd Volkskonzerten, weil sie Gefühle, Konflikte, Ver-
hältnisse vorausgesetzt, die nur in der widernatürlich dumpfen Luft der höheren
Gesellschaft vorhanden sind. Ein ganz natürlicher Verlauf ist es, daß die
Kreise immer enger werden, bis sich die „Decadence" schließlich darin gefällt,
nur in möglichst dunklen Andeutungen für einen kleinen Ring von Fach-
genossen und Klubmitgliedern zu schaffen, ein leeres Spiel, wo einer dem
andern „Motive" und „intime Reize" zuschleudert wie Gummibälle, geistige
Akrobatik, aber keine Kunst mehr, groß daran nur das wahnsinnig gesteigerte
Selbstbewußtsein.
Der vierte und schlimmste Anstoß aber ist die Gehaltlosigkeit. Seit man
angefangen hat, die Kunst als Befriedigung eines wenn auch sehr ästhetisch
verfeinerten Genusses aufzufassen, kommt man aus dem Zirkel nicht mehr
heraus: Gefallen soll, was „schön" ist. Was ist aber „schön"? — Was
gefällt, was in einem gewissen Kreis zu gewisser Zeit gefällt. Die freund-
liche ästhetische Theorie hilft und sagt, es komme nicht auf das „Was", auf
den Stoff an, nur auf das „Wie" der Darstellung, auf die „künstlerische
Form". Was ist aber künstlerische Form? Man hat dafür wieder keinen
Maßstab als den der geltenden Mode. And so kommt es, daß die moderne
europäische Menschheit ganz hilflos jeder Kunstbarbarei und Modetorheit
gegenübersteht, und sich von der Zeitungskritik alles ausschwatzen läßt.
„Früher fürchtete man, daß unter die Zahl der Gegenstände der Kunst Dinge
geraten könnten, die die Menschen verdürben und man verbot sie ganz
(Buddha, Plato, das Urchristentum). Jetzt aber fürchtet man nur, daß irgend-
ein Genuß, den die Kunst bereitet, verloren gehen könnte und protegiert
 
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