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Der Intellektualismus sagt zu seiner Verteidigung — Ihr macht eine
Kirche der — der Unmündigen! Der Heiland sagte: „so ihr nicht
werdet wie die Kinder". —- Sollte man das nicht auch für die religiöse
Phantasie- und Wunderwelt anwenden dürfen, ja müssen? Und kann nicht
Intellekt und Mystik in einer Seele wohnen? Hat nicht Luthers kritischer
Intellektualismus die Erde neu belebt — und seine Mystik den Himmel
auf die neue Erde getragen — allerdings in anderer Form und anderem
Fühlen als die Wundermystik des Katholizismus.
Man hat ja bekanntlich auf unsre Zeit des Intellektualismus ein
Zeitalter der Mystik prophezeit und damit eine neue Blüte der katholischen
Kirche.
Wir lassen uns durch derartige Philosophemr nicht einschüchtern. Aber
ob es nicht im großen geschichtlichen Zusammenhänge an der Zeit ist, den
mystischen und ästhetischen Tendenzen in unsrer Kirche neuen Raum zu geben
und sie beizeiten zu organisieren und in Formen zu kristallisieren, die
sie vor Zerrbildern des Aberglaubens und der Bigotterie bewahren?
In diesen großen Zusammenhang eines religiösen Entwicklungs-
prozesses stellt diese Frage der Ästhetik in der protestantischen Kirche — Ernst
Troeltsch in seinem Werke: Protestantisches Christentum und
KirchederNeuzeit. Er kommt darauf zu reden in seinem VI. Abschnitt:
„Die Auflösung der protestantischen Aszese." Ich will demnächst auf diese
Ausführungen genau eingehen. Es hat noch niemand so klar die geschicht-
liche Notwendigkeit und Berechtigung unsrer Bewegung für die moderne
Kulturaufgabe der religiösen Kunst — erkannt und wissenschaftlich dargetan,
wie Ernst Troeltsch. Daß seine Worte noch nicht alle die Kreise erreicht
haben, denen sie gelten, mag daran liegen, daß sie in einem sehr großen
Werke verankert sind: Geschichte der christlichen Religion. (2. Auflage.
Verlag B, G. Teubner.) Vielleicht erscheint gerade das Werk von Troeltsch
noch einmal in Separatdruck? Troeltsch führt unter den Momenten, welche
die altprotestantische Aszese auflösen, auch die moderne Kunst an. Wenn
Troeltsch sagt (Seite 656, 657), daß zur Kunst die reflexionsfreie Naivität
gehöre, die sich dem Gestaltungs- und Verkörperungsdrange überläßt und
die sinnliche Sensibilität, die das Sinnliche als Verkörperung des Schönen
unmittelbar empfindet, so zeichnet er damit den Gegensatz zwischen Intel-
lektualismus und Ästhetizismus, den wir oben von andern Voraussetzungen
aus konstatierten. Auch Troeltsch streitet dem protestantischen Intellektualis-
mus nicht alle Fähigkeit zur Kunst ab, er bestätigt nur, daß der Katholizis-
mus viel „mehr Naivität und unbefangene Sinnlichkeit" von Anfang an
besessen habe. Aus dieser unreflektierten, ich möchte sagen unintellektuellen
Naivität heraus erklärt es sich, daß auch die katholische, weltflüchtige Aszese
nicht so sehr zu einer Negation der Kunst kam, wie die protestantische Aszese.
„Gerade die weltflüchtige Aszese des Katholizismus lehrt die Idee der
Aszese selbst naiv und vermochte sie künstlerisch auszusprechen, und seine
Freilassung des Sinnlichen in gewissen Grenzen ließ der künstlerischen Ver-
 
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