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Christliches Kunstblatt für Kirche, Zchule und Haus
Nr. 1

sein Ruß gefühlt. Schleiermacher sagt von seinem Aufenthalt in Gnadenfrei, wo
die Entscheidung über seine Aufnahme in die Brüdergemeine abgewartet wurde:
„hier wurde der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in Zachen der Religion
gelegt, die mich bei etwas weniger Raltblütigkeit wahrscheinlich zu einem Schwärmer
gemacht haben würde, der ich aber in der Tat mancherlei sehr schätzbare Er-
fahrungen verdanke, der ich es verdanke, daß ich meine Denkungsart, die sich
bei den meisten Menschen unvermerkt aus Theorie und Beobachtung bildet, weit
lebendiger als das Resultat und den Abdruck meiner eignen Geschichte ansehen
kann." Diese Phantasie nun wurde im herrnhutertum in Anspruch genommen,
um religiöse Lustgefühle zu erwecken; dabei schwangen alsbald ästhetische Empfin-
dungen mit- denn so realistisch, ja naturalistisch und abstoßend nach unserm Ge-
schmack die Ausmalung der Rreuzespein sein mochte, die Marter Jesu wurde
als „schön" empfunden. Mir führen aus dem von Zchleiermacher gebrauchten
Gesangbuch der Brüdergemeine von 1778 einige Verse an, aus denen das Mit-
spielen eines ästhetischen Faktors unzweifelhaft hervorgeht:
Nr. 147, Vers 7: Tret't her mit Liebestränen, und seht den blut'gen Mann,
In seinen Leidensschönen, in seiner Marter an!
Nr. 166, Vers 8: Ich hab genug an seiner Marterschöne,
Daran sieh ich mich nie satt.
Nr. 147, Vers 9 und 10: D Leib, mit Blut bedecket, o Brust, von Ängsten heiß,
(v Glieder ausgestrecket, o Haupt voll Todesschweiß,
V Mund in letzten Zügen, o Herz im Todsgezück,
G Seele im Fortfliegen; verehrungsrvürd'ger Blick!
Was kann ich schöners denken?
In dieser Verherrlichung der Schönheit des Rruzifixus ist die Verschiebung
deutlich zu erkennen, welche das Thristentum allmählich in den ästhetischen Be-
wertungen vollzogen hat. Rannte die Antike Schönheit wesentlich nur im Zinne
harmonischer Formvollendung und ausgeglichenen Ebenmaßes, so legte das Christen-
tum zumal im Norden den Nachdruck auf ch arakteristis ch e Formgebung. Der
Gekreuzigte wurde in der Bernhardinischen und Zinzendorfschen Frömmigkeit als
schön empfunden, weil die Furchtbarkeit seines Leidens zugleich den unsagbaren
herrlichen Mert seiner Gpferleistung offenbarte. Der Rontrast zwischen der
äußeren (Hual und der inneren Gotteskraft des Gekreuzigten vertiefte nur die
Freude an den „Lieblichkeiten, die nicht auszusprechen" (Nr. 166, Vers 9).
Vie Lyrik der Herrnhuter hat einen besonderen Ausdruck geprägt um die
Wirkung der Versenkung in das Marterbild zu kennzeichnen, es ist die „Zer-
flossenheit". So heißt es z. B.
Nr. 173, Vers 8: (I) Blut der Wundenhöhle! erhalte meine Seele
stets in Zerflossenheit!
Es mag gezwungen und erkünstelt erscheinen, die Anschauung des Marter-
bildes und das Gefühl der „Zerflossenheit" in Verbindung zu bringen mit „An-
 
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