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Oktober >918

Sechzigster Jahrgang

Nr. 10


Kunstanalytische Behandlung der italienischen
Hochrenaissance.
von Lizentiat K. Kühner in Waldkirch i. Br.

war mir die Aufgabe gestellt, vor einem Kreis von etwa 30 Hörerinnen
» 8^ in einem Kursus mit zwölf je zweistündigen Abenden irgend einen Ausschnitt
aus der Kunstgeschichte zu behandeln, und zwar möglichst anschaulich, mit
Berücksichtigung des Unterschieds von Geförderten und Anfängerinnen. Was
wählen aus der Überfülle? Ich wählte die italienische Hochrenaissance in der
Absicht, das Lebenswerk von Michelangelo, Leonardo da Vinci, Raffael, Tizian,
Paul Veronese und Tintoretto besonders herauszuheben. Meine Liebe und mein
Studium gehörten in den letzten 15 Jahren vornehmlich der deutschen Kunst
von Grünewald bis Uhde, ich hatte eine Abneigung gegen die Glätte und die oft
seelenlose Formvollendung der Romanen; ich hielt es für meine Pflicht, den Sinn
für unsere eigenen guten, alten Meister in mir und in andern zu fördern, gemäß
dem Meistersingerspruch:
„Ehret eure alten Meister
Und ihr bannet gute Geister."

Nun aber entschloß ich mich, dieser Neigung zum Trotz mich wieder einmal
in die klassische italienische Kunst hineinzuarbeiten durch Studium der Literatur
und möglichst vieles Betrachten guter Reproduktionen; und ich entdeckte in ihr
wieder eine neue Welt, ich bekam mehr und mehr Sinn für die Formgesetze, für
die Farbenfreude, aber auch für den Geistesreichtum der klassischen Italiener, und
lernte die ungeheure Kulturmach't spüren, mit der diese Kunst die Welt und auch
unsere deutsche Welt befruchtet hat. Aber vor allem hatte ich die Möglichkeit
zur Vergleichung zwischen romanischer und deutscher gleichzeitiger und nachfolgender
Kunst, und diese Vergleichung führte mich erst recht zur Eigenart und den
unübertrefflichen werten gerade wieder der deutschen Großen in der Kunst.
Professor Otto pfleiderer sagte uns oft: „Vie eigene Religion weiß nur der
zu schätzen, der auch andere kennt". Ich lernte dies Wort abwandeln und
bekennen: die Kunst seines eigenen Volkes lernt nur der schätzen, der auch die
Kunst anderer Völker kennt.

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