der heutige Architekturfreund wieder unter »Stadtbau« zu verstehen gelernt hat: in der Fülle
der städtischen Straßen- und Platzbilder wirkt der Hochbau Notre-Dame zunächst durch
seinen Maßstab, als burgartig gewaltige Masse (Nord-Süd-Blick von der Rue Royale auf die
Vierungsgruppe der fünf Türme, Süd-Nord-Blick aus der Rue St. Martin auf dieselbe Turm-
gruppe, die hier noch durch den hinzutretenden Beifried bereichert erscheint (vgl. Taf. 4).
Der Gegensatz des erhabenen Gotteshauses gegenüber der Kleinbürgerlichkeit der sich ringsum
duckenden Dächer der vielen Häuschen kommt am besten in jener Ansicht zur Geltung, die
man vom Ausgang der Rue des Maux her auf die Nordwand der Grand’ Place hat.
Im Sinn der mittelalterlichen Auffassung des Stadtbaus als eines rein zweckmäßig be-
gründeten Organismus, der alle Bauelemente untereinander verknüpft, nichts aber heraus-
löst zum Zweck fassadenhafter Repräsentation — wie das später die Renaissancestile gewollt
haben —, erscheint auch die Kathedrale von Tournai ringsum eingebaut. Nur an den
Stellen der drei Kirchenportale im Westen, Norden und Süden sind Plätze in das sie um-
gebende Häusermassiv eingeschnitten. Freilich sind wie so oft die »Place des Acacias« im
Norden und der »Marche aux Poteries« im Süden nichts anderes als alte Kirchhöfe, die
dann spätere Zeiten zu Marktzwecken benutzten. Wie immer bei mittelalterlichen Kirchen
war auch hier allein vor der Westfassade eine bewußte Platzbildung im Sinn eines Vorhofs
oder »Paradieses« geschaffen: auf diesem feierlich symmetrischen Vorraum der »Plachette
devant l’eglise Notre-Dame«, geradezu auch atre, atrium genannt, fanden stets alle amt-
lichen Verkündigungen des Bischofs von Tournai statt.
Die seit 1906 begonnene, völlige Freilegung der Kathedrale versündigt sich somit in stärkstem
Maß gegen die ursprünglich gewollte stadtbaukünstlerische Gesamtanlage wie gegen den Geist
ihrer Schöpfer. Dadurch daß man auf der Nordseite durch Abbruch der Reste des aus der
Wende des 12. zum 13. Jahrhundert stammenden spätromanischen Kreuzgangs der Kathedrale
und durch den breiten Straßendurchbruch längs dem Kathedralchor nach der Rue des Chape-
liers die Place des Acacias ins Unbegrenzte verbreiterte, hat man die beabsichtigte Wirkung
dieses Platzes geradezu in sein Gegenteil verkehrt. War dieser doch durchaus als Tiefenplatz
gedacht, als perspektivisch empfundene Rahmung der Vierungsgruppe der Kathedrale von
Norden gesehen. Und ebenso baukünstlerisch widersinnig erscheint die Niederlegung der
kleinen Bürgerhäuser, die das Strebewerk des gotischen Chorhaupts seit alters verdeckten.
Den Verlust der alten Zusammenstimmung und organischen Verschmelzung von bürger-
licher und kirchlicher Baukunst empfindet man besonders lebhaft bei Betrachtung der Süd-
seite der Kathedrale, die diese Verbindung noch in stimmungsvollster Weise gewahrt hat:
Der alte Töpfermarkt, einst die bischöfliche Richtstätte und der Kirchhof für die Pest-
kranken Tournais, gehört mit dem höchst malerischen Beieinander der Querhausapsis im
Übergangsstil, der reifromanischen Langhauswand auf der einen Seite, dem spätgotischen
Teil des Bischofspalastes mit Staffelgiebel und schlankem Treppentürmchen auf der andern,
einem anmutigen Spätrenaissancehaus im Vordergrund und der »Fausse Porte«, dem ge-
drückten Verbindungsbogen der frühgotischen Bischofskapelle im Hintergrund zu den
reizvollsten und malerischesten Bildern, die das alte Tournai darzubieten vermag.
Diesen organischen Gestaltungsgrundsatz durchgängiger Wandverbindungen wahrt vor
allem auch die symmetrische Place de l’Eveche vor der Westfassade, der kleine quadratische
Vorplatz zum Hauptportal der Kathetrale (Abb. 21): Der Basilikaquerschnitt erscheint in der
Tiefe eingefügt zwischen zwei wesentlich jüngeren Rahmenbauten, zwischen der leichten und
feinen Pilasterfront des Hotel des anciens Pretres von 1755 und zwischen dem schweren
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der städtischen Straßen- und Platzbilder wirkt der Hochbau Notre-Dame zunächst durch
seinen Maßstab, als burgartig gewaltige Masse (Nord-Süd-Blick von der Rue Royale auf die
Vierungsgruppe der fünf Türme, Süd-Nord-Blick aus der Rue St. Martin auf dieselbe Turm-
gruppe, die hier noch durch den hinzutretenden Beifried bereichert erscheint (vgl. Taf. 4).
Der Gegensatz des erhabenen Gotteshauses gegenüber der Kleinbürgerlichkeit der sich ringsum
duckenden Dächer der vielen Häuschen kommt am besten in jener Ansicht zur Geltung, die
man vom Ausgang der Rue des Maux her auf die Nordwand der Grand’ Place hat.
Im Sinn der mittelalterlichen Auffassung des Stadtbaus als eines rein zweckmäßig be-
gründeten Organismus, der alle Bauelemente untereinander verknüpft, nichts aber heraus-
löst zum Zweck fassadenhafter Repräsentation — wie das später die Renaissancestile gewollt
haben —, erscheint auch die Kathedrale von Tournai ringsum eingebaut. Nur an den
Stellen der drei Kirchenportale im Westen, Norden und Süden sind Plätze in das sie um-
gebende Häusermassiv eingeschnitten. Freilich sind wie so oft die »Place des Acacias« im
Norden und der »Marche aux Poteries« im Süden nichts anderes als alte Kirchhöfe, die
dann spätere Zeiten zu Marktzwecken benutzten. Wie immer bei mittelalterlichen Kirchen
war auch hier allein vor der Westfassade eine bewußte Platzbildung im Sinn eines Vorhofs
oder »Paradieses« geschaffen: auf diesem feierlich symmetrischen Vorraum der »Plachette
devant l’eglise Notre-Dame«, geradezu auch atre, atrium genannt, fanden stets alle amt-
lichen Verkündigungen des Bischofs von Tournai statt.
Die seit 1906 begonnene, völlige Freilegung der Kathedrale versündigt sich somit in stärkstem
Maß gegen die ursprünglich gewollte stadtbaukünstlerische Gesamtanlage wie gegen den Geist
ihrer Schöpfer. Dadurch daß man auf der Nordseite durch Abbruch der Reste des aus der
Wende des 12. zum 13. Jahrhundert stammenden spätromanischen Kreuzgangs der Kathedrale
und durch den breiten Straßendurchbruch längs dem Kathedralchor nach der Rue des Chape-
liers die Place des Acacias ins Unbegrenzte verbreiterte, hat man die beabsichtigte Wirkung
dieses Platzes geradezu in sein Gegenteil verkehrt. War dieser doch durchaus als Tiefenplatz
gedacht, als perspektivisch empfundene Rahmung der Vierungsgruppe der Kathedrale von
Norden gesehen. Und ebenso baukünstlerisch widersinnig erscheint die Niederlegung der
kleinen Bürgerhäuser, die das Strebewerk des gotischen Chorhaupts seit alters verdeckten.
Den Verlust der alten Zusammenstimmung und organischen Verschmelzung von bürger-
licher und kirchlicher Baukunst empfindet man besonders lebhaft bei Betrachtung der Süd-
seite der Kathedrale, die diese Verbindung noch in stimmungsvollster Weise gewahrt hat:
Der alte Töpfermarkt, einst die bischöfliche Richtstätte und der Kirchhof für die Pest-
kranken Tournais, gehört mit dem höchst malerischen Beieinander der Querhausapsis im
Übergangsstil, der reifromanischen Langhauswand auf der einen Seite, dem spätgotischen
Teil des Bischofspalastes mit Staffelgiebel und schlankem Treppentürmchen auf der andern,
einem anmutigen Spätrenaissancehaus im Vordergrund und der »Fausse Porte«, dem ge-
drückten Verbindungsbogen der frühgotischen Bischofskapelle im Hintergrund zu den
reizvollsten und malerischesten Bildern, die das alte Tournai darzubieten vermag.
Diesen organischen Gestaltungsgrundsatz durchgängiger Wandverbindungen wahrt vor
allem auch die symmetrische Place de l’Eveche vor der Westfassade, der kleine quadratische
Vorplatz zum Hauptportal der Kathetrale (Abb. 21): Der Basilikaquerschnitt erscheint in der
Tiefe eingefügt zwischen zwei wesentlich jüngeren Rahmenbauten, zwischen der leichten und
feinen Pilasterfront des Hotel des anciens Pretres von 1755 und zwischen dem schweren
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