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Clemen, Paul [Editor]
Belgische Kunstdenkmäler (Band 1): Vom neunten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts — München, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.43817#0055
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3. Das reifromanische Langhaus.
Tritt man aus der spätgotischen Vorhalle in das Innere der Liebfrauenkathedrale von
Tournai ein, so ist man überwältigt von dem großartigen Eindruck dieser 130 Meter
langen Innenperspektive: zuerst die breit und gemessen in vier Stockwerken dahinwal-
lenden reifromanischen Rundbogen des Langhauses mit ihren sehr massiv wirkenden
Säulenpfeilern, dann durch die weite Cäsur des Querschiffes getrennt, künstlerisch betont
und eingeleitet durch den in bunter Marmorpracht erglänzenden, triumphbogenähnlichen
Lettner von 1572 des Cornelis de Vriendt, genannt Floris, der hohe Chor in klassisch-
französischer Gotik.
Freilich einen wesentlichen Faktor des heutigen Gesamteindrucks gilt es abzuziehen: die
glatt geweißten, schmal rechteckigen Kreuzgewölbe des Langhaus-Mittelschiffs rühren ebenso
wie die klassizistischen Pilaster zwischen den — damals vergrößerten — Oberlichtfenstern
von einer Erneuerung des Jahres 1777 her. Denn ursprünglich hatte dieses spätromanische
Mittelschiff (Weihe des Langhauses 1171, als im Bau befindlich erwähnt 1141) nur eine
flache Holzdecke in der Höhe des heutigen Gewölbeschlusses1), die, wie Cousin berichtet,
»ein gemalter Teppich mit Stäben« schmückte. Dagegen waren von Anfang an gewölbt die
Seitenschiffe in primitiven quadratischen Kreuzgewölben mit schlicht rippenlosen Graten.
Auch hier erscheint der ursprüngliche Eindruck insofern verändert, als die den Außen-
pfeilern vorgelegten Halbsäulen, die den Halbsäulen der Innenpfeiler entsprachen, 1633 ent-
fernt wurden, um Standplätze für Barockstatuen zu gewähren.
Die prachtvoll gelagerte Schichtung des romanischen Innenraums beherrscht auch den
Eindruck seiner seitlichen Außenfassaden: deren Oberflächenwirkung bestimmt ganz die
nur roh bearbeitete »pierre bleue«, ein dunkler, granitartiger Hartstein des Tournaisis. —
Dem vierstöckigen Innensystem entsprechend differenziert und erleichtert sich auch die
Außenfassade von unten nach oben: Im Erdgeschoß erscheinen große Rundbogenfenster,
von weitschattenden, gesimsumzogenen Doppelbogen überwölbt und von schlanken, acht-
eckigen Säulen mit jonisierenden Blattkapitellen seitlich gefaßt. Die einzelnen Joche der
Langhausfront sind durch breite Strebepfeiler von einander getrennt, die im ersten Stock
höchst originell sich in eine Art zierlicher Tabernakel auflösen. — Ganz das reihende Prinzip
der Lagerung bringt das hinter dem Pultdach über dem inneren Triforium zurücktretende
Obergeschoß zur Geltung: Indem jedes der Oberlichtfenster von zwei Freisäulen flankiert
wird, der die Joche der unteren Geschoßfronten trennende Zwischenpfeiler aber sich hier
zum schmalen Pilaster verringert hat, entsteht ein freier Laufgang nach Art der Triforien
des Innern. Dieser »normännische Laufgang«, wie man ihn seiner Herkunft nach benennt,
hat im Kirchenbau Tournais Schule gemacht, was die äußeren Bogengalerien der früh-
gotischen Kirchen St. Nicolas und St. Jacques beweisen.
Eine Seltenheit für das an frühmittelalterlicher Plastik arme Belgien stellen jene Reste
romanischer Skulpturenzyklen dar, die das nördliche und südliche Seitenportal am Ostende
des Langhauses aufweisen, wie dieses der Zeit nach der Mitte des 12. Jahrhunderts an-
gehörig. Das Südportal, »Porte du Capitole« genannt nach der darüber befindlichen, bischöf-
lichen Gerichtslaube, hat besonders stark gelitten: wenige abgeschliffene Bossenornamente

Q In konstruktiven Aufgaben war die Kirchenbaukunst Tournais noch lange Zeit rückständig:
so sind auch die drei frühgotischen Pfarrkirchen St. Jacques, St. Quentin und St. Nicolas, alle
um 1200 erbaut, noch mit flachen Holzdecken versehen.

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