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wäre ein Zug der Freiheit und Großheit; aber man braucht nur den Kopf des Mannes
anzusehen, um zu fühlen, daß er gerade diesen Zug mit auf die Welt gebracht hat.«
Diese weisen Worte müssen wir immer im Gedächtnis behalten, wenn wir an die Betrach-
tung von Rubens’ künstlerischer Entwicklung herangehen. Sein Fortschreiten erscheint,
selbst schon in seinen italienischen Jugendjahren, ruhig, stetig, wohlbedacht, des endlichen
Zieles bewußt. Und doch gibt es auch bei ihm Augenblicke, da eine tiefe Kluft Früheres
und Späteres zu trennen, da der ruhige Gang seiner Entwicklung durch einen weiten
und kühnen Sprung unterbrochen zu sein scheint, da etwas Unerhörtes, Überraschendes,
Verblüffendes vor unsre Augen tritt.
Einen solchen Riß hat mit Recht Max Dvorak, der allzufrüh verstorbene Meister
universalgeschichtlicher Kunstbetrachtung, in dem hier1) abgedruckten hinterlassenen Bruch-
stück festgestellt: er wirft die Frage auf, wie der Unterschied des Stils und der Kunst-
weise zu erklären sei, der zwischen Rubens’ italienischen Jugendwerken einerseits, und
dem ersten großen Werk, das ihn in seinem Heimatlande hochberühmt gemacht hat,
dem Kreuzaufrichtungsaltar der ehemaligen Sankt-Walpurgis-Kirche in Antwerpen, an-
drerseits sich offenbart. Das gestellte Problem ist von größter Wichtigkeit und von
höchstem Interesse, und es ist aufs tiefste zu bedauern, daß wir auf seine Lösung durch
Dvorak für immer haben verzichten müssen. Wenn einem Vertreter der Forschung über
ein besonderes Gebiet die ehrenvolle Aufgabe zugefallen ist, den der weltgeschichtlichen
Auffassung in gewissem Sinne zu ersetzen, so entspricht er diesem Verlangen mit der
Hoffnung, daß es ihm gelingen möge, den Berufsfehler zu vermeiden, der, den meisten
Spezialisten eigen, sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen läßt.
Wer jemals vor dem Altäre der Kreuzaufrichtung in der Antwerpner Kathedrale gestan-
den ist, wird einen überwältigenden Eindruck empfangen haben und zugleich auch die
Überzeugung, daß mit diesem Werke eine neue Epoche in der Entwicklung des Künstlers,
ja der Kunst überhaupt beginnt. Auch wenn man alles im Gedächtnis hat, was Rubens
bis dahin geschaffen hat, so verschwindet es fast vor dieser mächtigen Wirkung. Und
gerade der Gegensatz zu den letzten, in Italien entstandenen großen Werken, wie vor
allen dem großen dreiteiligen Altar für die Chiesa Nuova in Rom, den Rubens selbst
als eine seiner am wenigsten mißlungenen Arbeiten bezeichnet, ist so groß, daß man
kaum daran glauben kann, daß nur etwa drei Jahre dazwischen vergangen sind. Dem
ruhigen Nebeneinander der der Antike sich nähernden Gestalten in fast statuarischer
Haltung setzt er in der Kreuzaufrichtung ein lebhaft bewegtes und doch enge verbun-
denes Ganze, einen unvergleichlichen Schwung entgegen, und nur in den Außenseiten
der Flügel mit den vier großen Heiligengestalten vermag man noch die Verwandtschaft
mit den Figuren des römischen Altars zu erkennen.
So stark und plötzlich dieser Gegensatz erscheint, so haben wir doch gelernt, daß es
in der Geschichte der Kunst und selbst in der Entwicklung des größten Genies nichts
ganz Unvermitteltes gibt. Nur sehen wir hier deutlich den Augenblick, da Rubens ganz
er selbst, nach langen Lehr- und Wanderjahren ganz sein eigener Herr wird. Der Stil,
den wir mit seinem Namen verknüpfen, nimmt eigentlich erst hier seinen Anfang. Und
doch fehlt es, wenn wir genauer zublicken, nicht an Vorstufen sowohl in der allgemeinen
Geschichte der Kunst und der Kunstmittel, als auch in den besondern seines eigenen

T) Siehe den Anhang.

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