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Clemen, Paul [Hrsg.]
Belgische Kunstdenkmäler (Band 2): Vom Anfang des sechzehnten bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts — München, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.43818#0364
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gleichen Entwicklung der Stände und der gesellschaftlichen Formen; jedoch haben die
großen alten flandrischen Städte den Ruhm, vielleicht die besten und bezeichnendsten Bei-
spiele für die einzelnen Typen und ihre Entwicklungsstufen zu umschließen und uns da-
durch im Verein mit ihren Schätzen an Abbildungen und schriftlichen Überlieferungen
aus alter Zeit am besten den Geist alter Wohnkunst zu vergegenwärtigen. Daß über der
Betrachtung dieser Zeugnisse des blühenden mittelalterlichen Lebens die flandrische Wohn-
kultur der späteren Jahrhunderte leicht übersehen wird, ist nicht zu verwundern. Aber
diese ist nicht weniger typisch für die Entwicklung in der ganzen Tiefebene und nicht
weniger reich an Kraft, Eigenart und unvergänglicher Schönheit; sind es doch auch heute
weit mehr Formen des 17. und 18. Jahrhunderts, die wir in Altflandern finden, als solche
aus den Zeiten seiner staatlichen Größe, nur daß freilich die späteren Formen sich oft
den Bedingungen fügen, sich in die Rahmen einpassen, die ihnen die Vorzeit schuf. Die am
Ausgang des Mittelalters maßgebenden Wohnungsformen bleiben die Grundlage der späteren
Entwicklung und wirken überall dort, wo nicht der moderne Verkehr mit seinen Begleit-
erscheinungen die Fäden der Überlieferung abgerissen hat, bis in unsere Zeit nach.
Im Wohnungsbau ändern sich die Wesenszüge seit dem Ausgang des Mittelalters über-
haupt nur beim Großbürgerhause, dem einzigen Typus, dessen Bauherren ihre Lebens-
gewohnheiten wesentlich änderten, also auch neue Forderungen an ihre Werkmeister und
deren Pläne stellten, und der für die neueren künstlerischen Bestrebungen die nötige Vor-
bedingung, eine Breitenentfaltung der Schauseiten, erfüllte. So mußten andere Aufgaben
und andere Geschmacksrichtung gemeinsam nach neuem Ausdruck suchen. Die an den
Großbürgerbauten zur Entwicklung gebrachten Formen werden aber für die anderen kon-
servativeren, eigentlich grundlegenden Typen entlehnt, oft in einer von Geschmack und
Feingefühl zeugenden Umbildung und weisen Beschränkung, oft auch in immerhin ur-
wüchsiger und formbeherrschender Großmannssucht, so daß auch ihre Betrachtung in den
neueren Jahrhunderten eine Fundgrube von Schönheiten einerseits und lehrreichen An-
regungen andererseits darstellt. Bei alledem ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem
Mittelalter der, daß in diesem die Wohnungskunst den Spuren der kirchlichen und öffent-
lichen Kunst folgt, in den neueren Jahrhunderten dagegen an der Bildung der Ausdrucks-
formen im gleichen Maß wie diese mitwirkt, ja vielfach allein die Formung des Stils über-
nimmt und im Ausmaß ihrer Entfaltung den Kirchenbau und die öffentliche Baukunst
weit überflügelt, tritt doch die höfische Baulust, die anderwärts wohl der Träger der
neuen kunstgeschichtlichen Aufgaben ist, in Flandern ganz zurück. Ja, das Übergewicht
der Wohnungskunst wird, nachdem sich die Malerei in Nachahmung der leuchtenden Ge-
stirne des flämischen Kunstlebens des 16. und 17. Jahrhunderts und damit in Manier ver-
loren, gegen Ausgang der alten gesellschaftlichen und staatlichen Zustände vor der fran-
zösischen Revolution und in dem ersten Zeitraum der Neugestaltung so groß, daß sie
vielleicht neben dem Hand in Hand mit ihr arbeitenden Kunstgewerbe, dem man auch
die Bildhauerei der Zeit beirechnen kann, als die führende Kunst, als der echteste Aus-
druck des Kunstwillens der gesamten Bevölkerung erscheint und in ihr mehr als auf den
anderen Gebieten die künstlerischen Persönlichkeiten mit ihren Absichten hervortreten,
ohne daß man ihnen bisher nachgegangen und sie zu erkennen und zu unterscheiden
bestrebt gewesen wäre. Und doch hat sich auf sie die künstlerische Kraft vererbt, die
sich in der bewunderten Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, in einem Breughel, einem
Rubens, einem Jordaens und Brouwer verkörpert.
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