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KUNSTGESCHICHTLICHE EINLEITUNG

XXXI

des Stadtregiments, Bürgermeister und Ratsmitglieder, Richter oder Schöffen, zunächst allein in der Hand des durch
Alter, Grundbesitz, Reichtum und Einfluß geadelten Stadtpatriziats, dessen vornehmste Geschlechter — die Krafft,
Ehinger, Besserer, Rot, Strölin, Löw, Ungelter, Neithart u. a. — das gesamte Mittelalter hindurch zur politischen
Führungsschicht Ulms gehörten. Der Versuch der Zünfte, die bis zur Wende des 13. zum 14. Jh. von jeder politischen
Verantwortung ausgeschlossen waren, Vertretung und Einfluß im Rat der Stadt zu erzwingen, verlief — wie andernorts
auch — nicht ohne blutige Auseinandersetzungen, bis schließlich nach einigen Rückschlägen die verfassungsrechtliche
innere Einheit mit dem sogenannten Kleinen Schwörbrief ab 1345 wiederhergestellt und den insgesamt 17 Zünften mit
jeweils einem Vertreter im 31 Mitglieder starken Ratskollegium eine — wenn auch vorerst noch recht knappe —
Vormachtstellung zugestanden worden war23. Der entscheidende Durchbruch zur Zunftverfassung gelang jedoch erst
mit dem Großen Schwörbrief des Jahres 1397, als zusätzlich zum bestehenden, fortan sogenannten »kleinen Rat« bei allen
wichtigen Entscheidungen ein »großer Rat« von 30 Zunftvertretern und nurmehr zehn Patriziern einberufen werden
mußte26. Das Gewicht der einzelnen Zünfte im großen Rat war durchaus gestaffelt, je nach deren Bedeutung für das
Gemeinwesen: So verfügten die Zünfte der Kramer (der in Ulm auch die Maler, Glaser und Bildhauer zugeordnet
waren), Kaufleute, Marner (Grautucher und Wollweber), Schmiede, Bäcker und Schuhmacher über jeweils drei Sitze,
die Metzger, Weber, Gerber und Bauleute über zwei Sitze und die Fischer, Kürschner, Schneider und Merzler (Klein-
händler) nur über einen Sitz im Ratskollegium; die Müller, Schreiner und Bader waren überhaupt nicht vertreten2 .
Diese Hierarchie blieb bis zum Ende des Mittelalters weitgehend gewahrt, da die einflußreichen, kapitalkräftigen
Großkaufleute und Handelsherren überwiegend zu den drei erstgenannten Zünften der Kramer, Kaufleute und Mar-
ner gehörten2s.
Der von Handel und Gewerbefleiß der erstarkten Zünfte getragene Aufschwung der Reichsstadt im 14. und 15. Jh., der
eigentlichen Blütezeit Ulms, fällt zusammen mit einem sprunghaften Anstieg der Einwohnerzahlen. Bereits ab 1316
war mit der weitsichtig angelegten, auf das Vierfache ihres bisherigen Umfangs ausgedehnten Neubefestigung der
Stadt begonnen worden, wobei u. a. das 1220 gegründete Deutschordenshaus im Westen, das 1281 niedergelassene
Dominikanerkloster und das Spital im Osten in den Schutz der Stadtmauer einbezogen wurden29. Die Zahl der
Einwohner wuchs inzwischen von rund 4000 (um 1300) auf 9000 (um 1400) und stand gegen Ende des 15. Jh. mit
17000 Seelen den oberdeutschen »Großstädten« jener Zeit, Nürnberg, Augsburg und Straßburg, nur wenig nach3".
Motor und Grundlage dieser Entwicklung zur Wirtschaftsmacht war neben dem Salz- und Eisenhandel und vor allen
anderen heimischen Handwerkszweigen das in Ulm und darüber hinaus im gesamten oberdeutschen Raum führende
Textilgewerbe, die Woll- und Leinenweberei, in besonderem Maße aber die seit dem 14. Jh. in Ulm eingeführte
Barchentherstellung11. Während der Rohstoff für die Leinenweberei durch den uralten ergiebigen Flachsanbau im
Ulmer Umland gewonnen wurde, mußte die Baumwolle für den Barchent, ein Mischgewebe aus leinener Kette und
baumwollenem Einschlag, über Zypern und Venedig aus dem Vorderen Orient eingeführt werden. Die hohe Qualität
der Ulmer Erzeugnisse, die sich in ihrer Verbreitung über das gesamte europäische Wirtschaftsgebiet des ausgehenden
Mittelalters niedergeschlagen hat — zu den traditionellen Handelsbeziehungen mit den Donauländern 12 trat seit Mitte
des 13. Jh. die Präsenz von Ulmer Kaufleuten in Oberitalien (Genua, Mailand, Venedig), auf den Märkten der

uni), der gleichfalls den hervorragenden, alteingesessenen Patrizierfami-
lien angehörte. Mit der Verfassung des sog. Kleinen Schwörbriefs von 1345
übernahm der Bürgermeister endgültig die Leitung der Stadt, während
das Amt des Ammanns auf den Vorsitz im Stadtgericht beschränkt wur-
de und schließlich 1347 von Karl IV. für eine jährliche Zahlung von 100
Pfund Hellern abgekauft wurde.
25 Hierzu ausführlich Hannesschläger, 1958, S. 52-76.
26 Mollwo, 1905, S. 258-264; vgl. auch Hannesschläger, 1958, S. 82-
85, und Specker, 1977, S. 47-56.
27 Zusammenfassend Specker, 1977, S. 5 5; zur Organisation der einzel-
nen Zünfte vgl. auch Hannesschläger, 1958, S. 83-90.
28 Vgl. hierzu auch Geiger, 1971, S. 27-37. Aus der Marnerzunft etwa
gingen die sogenannten »Wollherren« hervor, die als Unternehmer und
Großhändler Baumwolle aus dem Vorderen Orient importierten, zahlrei-
che nichtzünftige Land- und Gäuweber im Verlagssystem beschäftigten
und schließlich den Absatz der fertigen Produkte wiederum selbst in die

Hand nahmen (vgl. Max Huber, Das Textilwesen Ulms im Mittelalter,
Sonderbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 30. März 1957, S. 2f, und
Specker, 1977, S. 57-59).
29 Vgl. besonders Adolf Kölle, Die ältere Baugeschichte Ulms, in: UO
24, 1925, S. 5 5 ff.
30 Vgl. Hermann Grees, Die Bevölkerungsentwicklung in den Städten
Oberschwabens, in: UO 40/41, 1973, S. 136f.
31 Vgl. hierzu ausführlich Eugen Nübling, Ulms Baumwollweberei im
Mittelalter, Leipzig 1890, bzw. ders., Ulms Kaufhaus im Mittelalter. Ein
Beitrag zur deutschen Städte- und Wirtschaftsgeschichte, Phil. Diss. Ro-
stock, Ulm 1895, sowie den knappen, doch sehr präzisen Überblick von
Huber (s. Anm. 28), 1957, S. 2f.
32 Bereits 1164 datiert eine von Markgraf Ottokar III. von Steiermark
erlassene Marktordnung der Stadt Enns, in der neben den Kaufleuten
von Köln, Regensburg und Aachen auch die Ulmer privilegiert wurden
(Specker, 1977, S. 40).
 
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