DIE DEUTSCHEN VOLKS HAND SCHRIFTEN
DES SPÄTEN MITTELALTERS
VON HANS WEGENER, BERLIN
DAS Charakteristikum der deutschen Handschriften des späten Mittelalters ist
die Volkstümlichkeit. Sie sind das Erzeugnis der aus dem Bauerntum herausge-
wachsenen jungen städtischen Kultur. Alles, was im Bannkreis der Städte stand,
der niedere Adel, die Kaufmannschaft, das Handwerk war gleicherweise schaffend
und aufnehmend an ihnen beteiligt. So spiegeln sie nicht den Geist einer kleinen
isolierten Schicht, sondern sind Zeichen und Weg einer neuen Gesinnung, Doku-
mente kultureller Entwicklung und als solche zu werten. Das Bürgertum der Städte
prägte ihre geistige Haltung und äußere Form. Es ist da noch viel grohnerviges
Bauerntum, das Sentiment des Ä olksliedes und kraftvoll derbe Sprache mit nüch-
ternem, aufs Praktische gerichtetem Krämergeist vermischt. Demokratisch ist die
Gesinnung, selbstbewußt das Auftreten gegen fürstliche und klerikale Macht.
Der jungen Kultur fehlte jedes ästhetische Feingefühl. Die Dichtung der vorauf-
gegangenen Jahrhunderte wurde vergröbert und verflacht, und es scheint fast, als
ob die roh und flüchtig gezeichneten Bilder, die dabei voll heftiger Lebendig-
keit sind, eine bewußte Reaktion auf höfische und klösterliche Kunst sein wollten.
Für die Dichtkunst mußte die nüchtern reale Gesinnung unproduktiv bleiben.
Nur das Bild konnte gewinnen, konnte auf dem Wege der Entwicklung von flächen-
haft symbolischer Darstellungsform zum Naturalismus einen starken Zuschuß
realistischer Kraft, wirkliches Blut und Leben empfangen. So haben die A olks-
handschriften die neue Illustration geschaffen, die im Buchholzschnitt ihre Blüte
erlebte, und den Boden bereitet, aus dem die Meistergraphik des XV. und X\ I.
Jahrhunderts herausgewachsen ist.
Die Entwicklung des Schriftwesens in den Städten läßt sich an reichhaltigem
Material leicht verfolgen. Ein eigentlicher Anfang ist zwar nicht zu erkennen. Die
Handschriftenproduktion wächst organisch aus den Bedürfnissen städtischer Kultur
heraus, allmählich, mit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt anwachsender Menge. Die
ersten Anzeichen, noch undeutlich und verschwommen, zeigen sich um die W ende
des XIII. und XIV. Jahrhunderts. Man spürt in der Feierlichkeit höfischer und
klösterlicher Buchkunst eine Lockerung, das Regen einer neuen Lebendigkeit.
Doch kann man bis in die zweite Hälfte des XIV. Jahrhunderts eher von einem
Niedergang als von einem Aufschwung des Schriftwesens sprechen. Manche Berichte
DES SPÄTEN MITTELALTERS
VON HANS WEGENER, BERLIN
DAS Charakteristikum der deutschen Handschriften des späten Mittelalters ist
die Volkstümlichkeit. Sie sind das Erzeugnis der aus dem Bauerntum herausge-
wachsenen jungen städtischen Kultur. Alles, was im Bannkreis der Städte stand,
der niedere Adel, die Kaufmannschaft, das Handwerk war gleicherweise schaffend
und aufnehmend an ihnen beteiligt. So spiegeln sie nicht den Geist einer kleinen
isolierten Schicht, sondern sind Zeichen und Weg einer neuen Gesinnung, Doku-
mente kultureller Entwicklung und als solche zu werten. Das Bürgertum der Städte
prägte ihre geistige Haltung und äußere Form. Es ist da noch viel grohnerviges
Bauerntum, das Sentiment des Ä olksliedes und kraftvoll derbe Sprache mit nüch-
ternem, aufs Praktische gerichtetem Krämergeist vermischt. Demokratisch ist die
Gesinnung, selbstbewußt das Auftreten gegen fürstliche und klerikale Macht.
Der jungen Kultur fehlte jedes ästhetische Feingefühl. Die Dichtung der vorauf-
gegangenen Jahrhunderte wurde vergröbert und verflacht, und es scheint fast, als
ob die roh und flüchtig gezeichneten Bilder, die dabei voll heftiger Lebendig-
keit sind, eine bewußte Reaktion auf höfische und klösterliche Kunst sein wollten.
Für die Dichtkunst mußte die nüchtern reale Gesinnung unproduktiv bleiben.
Nur das Bild konnte gewinnen, konnte auf dem Wege der Entwicklung von flächen-
haft symbolischer Darstellungsform zum Naturalismus einen starken Zuschuß
realistischer Kraft, wirkliches Blut und Leben empfangen. So haben die A olks-
handschriften die neue Illustration geschaffen, die im Buchholzschnitt ihre Blüte
erlebte, und den Boden bereitet, aus dem die Meistergraphik des XV. und X\ I.
Jahrhunderts herausgewachsen ist.
Die Entwicklung des Schriftwesens in den Städten läßt sich an reichhaltigem
Material leicht verfolgen. Ein eigentlicher Anfang ist zwar nicht zu erkennen. Die
Handschriftenproduktion wächst organisch aus den Bedürfnissen städtischer Kultur
heraus, allmählich, mit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt anwachsender Menge. Die
ersten Anzeichen, noch undeutlich und verschwommen, zeigen sich um die W ende
des XIII. und XIV. Jahrhunderts. Man spürt in der Feierlichkeit höfischer und
klösterlicher Buchkunst eine Lockerung, das Regen einer neuen Lebendigkeit.
Doch kann man bis in die zweite Hälfte des XIV. Jahrhunderts eher von einem
Niedergang als von einem Aufschwung des Schriftwesens sprechen. Manche Berichte