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Beilage zum Diözesan-Archiv von Schwaben — 1891

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https://doi.org/10.11588/diglit.20709#0004
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alles das weist auf etwas anderes hin. Die gute Betha war
krank. Und jeder (?) Arzt, dem wir den Fall vorlegen,
nennt uns sofort auch den Namen der Krankheit, als deren
Symptome die erzählten Erscheinungen gelten nüissen, die
Hysterie, und er sagt uns auch, daß diese Krankheits-
erscheinungen heute noch in Spitälern it|tb Irrenanstalten bei
Hysterischen beobachtet werden. Auch das scheinbar so wunder-
bare Fasten ist als hysterische Anorexie (Appetitlosigkeit) wohl
bekannt. „Die Kranken essen nicht, sie wollen, sie können
nicht essen, obwohl sich kein mechanisches Hindernis für die
Beförderung der Speisen in den Magen und kein Hindernis
für den Verbleib daselbst, wenn sie einmal eingeführt sind,
findet. Mitunter, aber durchaus nicht immer, wie
man geglaubt hat, ernähren sie sich heimlich, und
obwohl die Eltern selbst diesem Betrug Vorschub zu leisten
pflegen, indem sie die sonst von den Kranken bevorzugten
Speisen so hinstellen, daß sich die Kranken ihrer unbemerkt
bemächtigen können, bleibt doch die Ernährung eine unge-
nügende. Man wartet Wochen und Monate ab in der Hoff-
nung, daß sich das Verlangen nach Speise wieder regen
werde, aber flehentliche Bitten wie Drohungen scheitern an
ihrem Widerstande. Mit der Zeit bleibt die Abmagerung nicht
ans und erreicht eine wirklich außerordentliche Höhe; die
Kranken sind ohne Uebertreibung nichts als lebende Skelette.
Und was für Leben! Eine tiefe Stumpfheit hat die anfangs
vorhandene unnatürliche Aufregung abgelöst, Gehen und Stehen
sind seit langer Zeit unmöglich geworden, die Kranken sind
aus Bett gebannt, in dem sie sich kaum zu bewegen ver-
mögen, die Muskeln des Halses sind gelähmt, das Haupt voll
wie eine tote Masse ans den Kissen, die Glieder sind kalt und
cyanotisch; man fragt sich erstaunt, wie bei einem solchen
Verfall noch das Leben bestehen kann!" (I. M. Charkot,
Nene Vorlesungeil über die Krankheiten des Nervensystems,
insbesondere über Hysterie. Leipzig und Wien 1886). ES
droht der tödliche Ansgang. Aber das ist nicht die Regel.
„Fast immer tritt, wenn die Kranken scheinbar schon am
Rande des Grabes stehen, ein plötzlicher Umschlag ein; das
Symptom, das allen Mitteln Trotz geboten, schwindet von
selbst und die Kranken erholen sich rasch. (Fr. Jolly, Hysterie
in v. Ziemssens Handbuch der speziellen Pathologie und The-
rapie XII S. 489. So wird z. B. von einem Mädcheil (Gio-
vanna Rovera aus Padua 1837) erzählt, die nach 37tägigem
Fasten, als man sie schon iln Sterben glaubte, sich plötzlich
aus ihrem todesähnlichen Zustand gesund erhob. Wir könnten
deshalb wohl annehmen, daß die gute Betha eine Zeit lang ge-
fastet hat, daß sie aber dann zur rechten Zeit sich eines Bessern
besann. Sie wurde dadurch freilich ihrer Umgebung gegenüber
in der That zur Betrügerin. Aber dieser Betrug ist auf Rech-
nung ihrer Krankheit zil schreiben llnd ist überdies bent beicht-
väterlichen Befehle gegenüber psychologisch sehr wohl begreif-
lich. Neigung zur Täuschung und zum Betrug wird )a über-
haupt als charakteristische Erscheinung bei Hysterie schon an-
gegeben. „Manche bringen," sagt Jolly a. a. O. S. 514, „um
Aufsehen und Beachtung zil erregen, sich selbst Verletzungen
bei, verbrennen sich, linterhalten durch Reiben und reizende
Salben lange Zeit hindurch eiternde Hanptwnnden, verschlucken
Nadeln, oder stechen sich solche an den verschiedensten Stellen
unter die Haut, oder machen den Versuch, sich zu erhängen,
zu ertränken, zu vergiften u. s. w. Andere greifen, um den-
selben Zweck des Beachtetwerdens zil erreichen, direkt zur Lüge
und zum Betrilg, der zuweilen, mit großer Schlauheit durch-
gesührt, lange Zeit die Umgebung und auch die Aerzte täuscht,

gewöhnlich aber leicht zu entlarven ist. . . Andere geben oo»
Monate oder Jahre lang keinen Stuhlgang zil haben, ^
ohne Nahrung zil leben, oder sich von Hostien zu ernähre"
n. s. w. „Sehr verkehrt wäre es aber," fügt Jolly bei, X11
der bei Hysterischen öfters vorkommenden Neigung zum Betrug
den Schluß zu ziehen, daß überhaupt ihre meisten Sympto'"^
auch die Krämpfe, Lähmungen u. s. w., absichtlich produzierst
simulierte (eien. Wohl aber läßt sich erkennen, daß viele de
Erscheinungen, welche einen solchen Verdacht erwecken, unnust
kürliche Erzeugnisse der lebhaften, bei der vorhandenen X'
regbarkeit der Kranken besonders stark wirkenden Einbildung^
kraft sind." ^ . sje

Hören wir auch über die sogenannte Stigmatisatwn L
Ansicht des Arztes. Jolly spricht sich über „die guw£lle
beobachtete blutige Färbung des Schweißes und die Thränk'
flüssigkeit und namentlich die stärkeren Blutungen ans einzelnst

umschriebenen Hantstellen" sehr skeptisch ans. Er sagt: „

DK

ben

letztere soll (gesehen hat er's also nicht) namentlich an
Händen und Füße» und an der Brust und der Stirne vorkonn"
und zwar so, daß zuerst ein blasiges Abheben der Epider"'^
erfolgt, worauf sich das anfangs helle Serum in der ~4aL
blutig färbt und dann nach dem Platzen der Haut ein
ziemlich reichlicher und lange andauernder Blutaustritt stst
findet. Diese unter dem Namen der Stigmatisation besäst'
bene Erscheinung, in welcher der Aberglaube eine Wiede
holnng der Wunden und Blutungen Christi au erkenn r

meint, ist in den meisten bekannt gewordenen Fällen ^

das Verhalten der Kranken selbst und durch das ,
Geistlichkeit, welche davon Vorteile z o g, Jö kJ
verdächtig geworden, daß man zweifeln muß, ob es sich 'HX
in der Regel um einfachen Betrug handle. Jedenfalls

diese Fälle, in welchen eine exakte Kontrolle regelmäßig .
eitelt wird, nicht beweiskräftig." Auch Kügelins Schil^^^

der Wnndenmale der guten Betha und des enormen ^
Verlustes legt den Gedanken nahe, daß es sich dabei " /

bloß um solche Hantblutungen handelte, sondern daß die 9

Betha in ihrer (hysterischen?) „Begierde des Leidens" r,X,i
...,, k ^ .. f: r. .s + »bpii £»£l .

Hand an sich gelegt hat. Wir haben schon oben - ^(1)t
Üebergang vom spielenden M i tl e i d e n mit Christo s

cm»»0 .

a k tiven, selbst h e r b e i g e f ü h r t e n M i t l e i d e»
deutet. Auch unser Fall scheint Moll recht zu gebe»» ^
ansführt: „Man konnte leicht dazu kommen, bei der
denknng der fünf Wunden des Gekreuzigten (dieseni e-

l i n g s k u l t u s der s i u n l i ch e n D e v o t e n, die d a^s - ^

len leiden des Herrn beinahe vergaßen, »>» ^

seines Leibes sich um so lebendiger vorzuste^ ^^11

die Hände noch stärker als zu Geißelung und Backenstte ^
an sich zu legen, und unwillkürlich drängt sich dast(
Gedanke auf, daß die Erscheinung der sogenannten
tiker noch eine mit der Wahrheit mehr übereinkonunend
klärung zulasse, als manche Wunder-süchtige unserer ^
davon gegeben haben." Sind wir auch betreffs der
male der guten Betha noch im Zweifel, ob wir st"

vollen Betrug der Hysterischen glauben sollen, E

mt

df

dieser Zweifel völlig, wenn wir an die andere Krankettgei >.^,i
denken, die Kügelin auch so treuherzig erzählt: den drei
Aussatz. Hier liegt die offenkundige Täuschung ans &el
(Auf der Hand Geigers?)

(Fortsetzung folgt.)


Stuttgart, Buchdruckerei der Aktiengesellschaft „Deutsches Volksblatt".
 
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