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M 23.
Donnerstag, den 1t
i. November. 1884.
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Inhalt: Goethe und Werther. Briefe Goethe'i
rc. Herausgegeben von A. Kestner.
Goethe und Werther.
Briefe GoeLhe's, meistens aus seiner Jugendzeit,
mit erläuternden Documenten.
Herausgegeben von A. Kestner, königl. hannov. Legationsrath rc.
Stuttgart und Tübingen. I. G. Cotta'scher Verlag. 1854.
Der Herausgabe der Briefe Göthe's, welche sich auf seine in
„Werthers Leiden" mit unvergänglichem Glanze gefeierte Liebe zu
Charlotte Kestner beziehen, hat das Publikum seit längerer Zeit mit
gespannter Erwartung entgegengesehen. Der vor Kurzem verstorbene
Legationsrath Kestner, der vierte ihrer Söhne, hatte die Briefsamm-
lung zum Abdrucke vorbereitet. Durch seinen letzten Wunsch, den
er den überlebenden Gliedern der Kestner'schen Familie hinterließ,
hat er die engherzigen Rücksichten, weshalb dieser werthvolle und
überaus wichtige Beitrag zur Götheliteratur bisher der Oeffentlich-
keit vorenthalten ward, endlich überwunden; er konnte daher mit
Recht als der Herausgeber genannt werden, wie denn auch von sei-
ner Hand die Einleitung herri'chrt, welche die biographischen Mo-
mente, die uns durch diese Briese veranschaulicht werden, in sinniger
Darstellung zusammenfaßt. Einzelne Gelehrte, welche während ihres
Aufenthalts in Rom mit jenem trefflichen Manne zusammengeführt
wurden, hatten bereits früher diese Briefe in der Handschrift kennen
gelernt. Es waren daher so ausführliche Berichte von deren Inhalt
in's Publikum gekommen und die etwas dürftigen und verblaßten
Schilderungen in „Dichtung und Wahrheit" dadurch so vielfach ergänzt
worden, daß die Biographie Göthe's durch die vollständige Ver-
öffentlichung der Briefe keine wesentliche Erweiterung erhält; aber
deutlicher und lebendiger treten doch jetzt die Einzelheiten eines jahre-
lang die Seele des jungen Dichters leidenschaftlich durchzitternden
Kampfes vor uns hin; es wird ein Seelengemälde voll Farbe und
Leben.
Wir stimmen dem Herausgeber gern bei, wenn er bemerkt, daß
die gedruckten Briefe nicht die mächtige Wirkung erreichen können,
wie die Handschrift, die in dem mannigfachen Wechsel der^chrift-
züge den Wellenschlag der Empfindung gleichsam vor das Äuge hin-
zeichnet. Diese Rücksicht hat ihn veranlaßt, einigen der bedeutsam-
sten Briefe ein Facsimile der Handschrift beizufügen, welches.zart-
sinnige Leser mit mehr als bloßer Neugier betrachten werden. Es
ist ebenfalls nur zu billigen, daß der Abdruck mit diplomatischer
Genauigkeit die Form wiedergiebt, in der die Briefe geschrieben sind,
mag auch dem gewöhnlichen Leser der Genuß etwas dadurch beein-
trächtigt werden, wenn der geniale Dichterjüngling, der immer nur,
wie er selbst in einem der Briefe sich äußert, seinem Jnstincte gefolgt
ist, auch in Orthographie, Jnterpunction und andern grammatischen
Dingen so sorglos dahinschlendert, als ob das grammatische Regeln-
buch für ihn gar nicht vorhanden sei. Die alexandrinische Gelehr-
Literatur-Blatt.
samkeit derer, welche die Werke unsers Dichters durch Sammlungen
von Wortformen, syntaktischen Idiotismen und eigenthümlichen In-
versionen commentiren, kann in diesem Buche eine reiche Aehrenlese
halten. Aber — und das ist's, was uns magnetisch zu diesen
Briefen hinzieht und uns immer von neuem an sie fesselt — es ist eine
Sprache, die aus dem tiefsten Born einer edlen, weichgestimmten
Seele wie die Naturlaute eines Liedes hervorquillt, es ist die ewig
junge Sprache der Wertherbriefe und der melodischen Lieder aus
Göthe's Iugendtagen. Mitten zwischen nachlässig hingeworfenen
Berichten über gleichgültige Dinge des Augenblicks bricht oft plötzlich
und überraschend ein hellleuchtender Strahl der Poesie hervor und
läßt uns in das Innerste der bewegten Seele blicken. Man lese, um
nur ein Beispiel anzuführen, die Erzählung von der geschwätzigen
alten Wärterin, die wie eine alte Bekannte aus Romeo und Julie,
vor uns steht, und man wird gestehen, ein ergreifendes Gedicht
gelesen zu haben. Selbst die Briefchen an Hans, Lotten's Bruder,
möchten wir nicht entbehren; sie vergegenwärtigen uns nur noch leb-
hafter den Freund der unschuldigen Kindernatur, auf dem „die
Jungens so gern herumkrabbeln". Kestner's Antwortschreiben fehlen;
nur einige wenige konnten nach Vorgefundenen Concepten eingeschal-
tet werden. Wahrscheinlich sind sie von Göthe, der zu Zeiten ein
Autodafe seiner Briefschaften hielt, vernichtet worden. Dagegen
erhalten wir als erläuternde Docnmente hin und wieder Auszüge
aus Kestner's Tagebuche und Briefen an seine Freunde von Hennings,
aus denen wir den, wenn auch in seinen Lebensansichten etwas
beschränkten, doch stets wackergesinnten und liebevollen Verlobten und
Gemahl Charlottens näher kennen lernen. Wenden wir uns jedoch
zu den Briefen selbst. Einer der früheren Berichterstatter, dem es
vergönnt gewesen war, von diesen Briefen nähere Kenntniß zu
erhalten, äußerte damals: sie seien der Ausdruck der tiefsten und
helligsten Frische und natürlichen Herrlichkeit; sie würden mehr als
alles Andere das kindliche, durchsichtige, unverdorbene und harmlose
Gemüth aufdecken, das Göthe edlen Anforderungen gegenüber ent-
faltete., und den vertrauensvollen, kühnen und doch gefaßten Muth
aussprechen, mit dem Göthe damals der Welt entgegentrat und mit
dem er alle, die ihm entgegentraten, elektrisirte. Diesen Ausspruch
finden wir durchweg bestätigt. Während Göthe's eigene Darstellung
in seiner Autobiographie nur die allgemeinen Umrisse des Tat-
sächlichen in seinem Verhältnisse zu Charlotten und ihrem Verlobten
giebt, und den tieferen sittlichen Gehalt nur oberflächlich berührt,
führen uns die Briefe in das innerste Heiligthum nicht sowohl einer
idyllischen Jugendliebe, sondern eines edlen Charakters, der durch
männliche Selbstbeherrschung die Kraft gewinnt, mitten im Kampfe
der Leidenschaft festzustehen und durch die Gluth des Gefühls zu
keiner Entweihung der Pflichten, welche Freundschaft und Betrauen
auferlegen, verleitet zu werden. Wenn der Herausgeber die Namen
Göthe und Werther auf dem Titel zusammenstellt, so kann darin
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