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Der Schneider von Ulm.

Allein Joseph achtete in seiner begeisterten Erregtheit auf nichts
mehr um fich her, sondern jauchzte, wie ein Rasender fich geber-
dend, in einem fort: „Ich hab'S, ich habe die Kunst zu fliegen!"

„Bei meiner Elle," brüllte aber jetzt der Meister, bis an
den Hals roth wie ein gesottener Krebs, „wenn du nicht zu
dreschen aufhörst, und dein unflnniges Narrenstück nicht augen-
blicklich wieder auseinandertrennst: so fliegst du hinunter, als
wärest du nie aus einer ehrlichen Schneiderhölle gesessen."

„O Meister! lieber Meister!" und mit diesen Worten schlang
er die langen Arme fteudetrunken ihm um den kurzen, dicken
Hals, „ich werde fliegen, fliegen gleich dem Propheten Habakuk."

„Dann will ich der Engel sein, der dich am Schopfe durch
die Lust führt!" —und—plumps—da lag der hagere Schnei-
dergeselle drei schwäbische Ellen lang unter den Flecken und Lum-
pen am Boden, daß der Staub über ihm zusammenschlug.

Der Sturz brachte ihn plötzlich zur Besinnung. „Was macht !
Ihr denn für Possen, Meister?" stöhnte er, indem er mit saue-
ren Mienen fich in die Höhe richtete, und wieder auf die Hölle
steigen wollte: „Seid Ihr denn nicht recht bei Tröste?"

„Ich? — Hinunter, du verrückter Hampelmann! Nie, nie
mehr sollst du diesen Ehrenplatz zwischen zwei austichtigen Schnei-
dern einnehmen. Pack' nur dein Berliner Felleisen und troll'
dich aus meiner Werkstatt!"

„Aber Meister —!"

„D ein Meister nicht mehr — hinaus! Ich brauch' einen
Schneider und keinen Dichter. Für einen Taugenichts, der den
; ganzen Tag im Kopfe spinnt und die Hände in den Schooß
legt, oder wenn er endlich einen Stich macht, die Arbeit ver-
kehrt thut, Hab' ich kein Brod und keinen Lohn, ich müßte denn
beide stehlen, wie du!"

„Aber lieber Meister —!"

„Wir haben ausgeredet —hinaus, hinaus!" und mit diesen
Worten sprang er mit gleichen Füßen in einem Satze, waS er
seit zwanzig Jahren nicht mehr gethan, aus seinem Loche herab
auf den Stubenboden, war mit drei Schritten an der kleinen
Thüre, öffnete sie mit einem raschen Druck der Hand, wahrend
er in der andern seinen Ellenstab, so hoch es die niedere Decke
! erlaubte, schwang, und wieS den sprachlosen Gehilfen, der noch
ganz betäubt und halb lahm von seinem Falle war, für immer
auS dem verwirkten Schneider-Paradies.

2.

,,(H liebt die Melk, da« Strahlende ,u schwanen
Und da« Erhabene in den Staub ju zieh'»."'

Schiller.

Wenige Minuten waren hinreichend für Joseph, seine dürf-
tigen Habseligkeiten in der dunkeln Schlafkammer zusammen zu ” >
suchen. Er warf unmuthig Stück um Stück in ein auf dem Bo- i
den auögebreiteteS Sacktuch, und schlang dann dessen vier Zipfel
fest ineinander. Hierauf kleidete er sich während eines oft unter-
brochenen Selbstgespräches hastig an, und nachdem er zuletzt in
seinen blauen, fadenscheinigen Altvaterfrack hineingefahren war,
nahm er seine Habe unter den linken Arm, griff nach seinem
ziemlich gewichtigen Knotenstock und drückte den vom Alter ge-
schmeidigten Filzhut sich tief in die Stirne.

163

In demselben Augenblicke steckte der Lehrbube seinen Kops .
zur Thür herein.

„Hier," stotterte er, „schickt euch der Meister euern Lohn.
Lebt wohl, Herr Joseph! und ..."

Den Rest der Rede erstickte ein reichlicher Thränenguß, der
aus den großen gutmüthigen Augen des Jungen plötzlich her-
vorschoß, und ihm in schweren Tropfen über die blaffen Wan-
gen auf den Hemdkragen rollte.

„Ich dank' dir, Kilian!" erwiederte Joseph gleichfalls ge-
rührt, „und sag' dem Meister, er soll von mir bald hören, und
dann wird er es zu spät bereuen, daß er mir den Stuhl vor die
Thüre gesetzt hat. Allein, ich verzeih' ihm, er ist eben in der
Dummheit aufgewachsen und grau geworden, ist in seinem Leben
nicht weiter gekommen, als bis Neresheim und Biberach, und
weiß so wenig als der Nachtwächter zu Vopfingen, was ein
Genie ist. Somit behüt' euch Gott!"

Und polternd humpelten die ungelenken Beine die schmalen
und steilen Treppen hinunter. Wär' er in seiner stürmischen Auf-
geregtheit auch zu gerne kurz durch den Schornstein hinaus hoch
über alle Häuser weg zum Dachfensterlein seiner geliebten Anna-
marie geflogen, vorderhand zog er es noch vor, wie die andern
gutmüthigen Schwaben zu Fuß durch Ulm zu gehen.

Annamarie war nicht wenig erstaunt, ihren Joseph feier-
täglich aufgeputzt mitten in der Woche bei sich zu sehen. Es
war dies ein unerhörtes Ereigniß zwischen ihren vier Pfählen.
Sie ließ die Näherei in den Schooß fallen, und die Hände vor
Verwunderung zusammenschlagend, schrie fie laut auf: „Ach
Herr Je! Joseph, was führt denn dich heute zu mir?"

„Annamarie!" erwiederte Joseph, „erschrecke nicht, du flehst,
ich trage all mein' Hab und Gut unterm Arm; ich bin ftemd."

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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Schneider von Ulm"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Stauber, Carl
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Fliegen <Motiv>
Schneider
Paar <Motiv>
Stube
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 3.1846, Nr. 69, S. 163
 
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