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Der Schneider von Ulm.

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„Hm", dachte er sich und schaute dabei den langen Schnei-
der wohl zehnmal vom Scheitel bis zur Schuhspitze mit forschen-
den Blicken an, „wenn er vielleicht doch die Kunst zu fliegen
verstände?" Da ward ihm ganz warm unter der Perrücke, und
er ging mit raschen Schritten im Zimmer hin und her, indem
er halblaut für sich hinsprach: Einem dürren jungen Adler fleht
er wirklich nicht ganz unähnlich, versteht sich einem, der noch
keine Federn hat, und wenn er sich nun vollends Flügel an-
schnallt—? Beim Blitz! Das wäre noch nie da gewesen; ein so
seltenes Vergnügen vermöchte keine andere Stadt des Königreichs
der Majestät zu bieten, selbst Stuttgart nicht, die Residenz. Ja,
ja, ei» fliegender Schneider könnte vielleicht diese ehemalige freie
Reichsstadt, unser herabgekommenes Ulm, wieder in die Höhe
bringen." Plötzlich machte er Halt und sagte: „Was du mir da
vorwägst, ist Alles schön und recht, du mußt mich jedoch erst
überzeugen, eh' ich in der Sache etwas beschließen kann. In einer
halben Stunde versammeln sich hier die Herren Stadwäthe zur
Sitzung, in welcher über die Festlichkeiten zu Ehren unseres aller-
gnädigsten Landesherren berathen wird. Hol' also deine Flügel
und zeig' uns was du kannst."

Da hättet Ihr sehen sollen, mit welcher Schnelligkeit sich Jo-
sephs Spindelbeine in Bewegung setzten. Ulm schien ihm während sei-
nes Aufenthaltes auf dem ehrwürdigen Rathhause um die Hälfte klei-
ner geworden zu sein. Binnen weniger als gar keiner Zeit kam er
athemlos bei Annamarie an, umarmte sie stürmisch, wie er nie gethan,
warf sich auf den alten Swohsessel nieder, sprang wieder auf, umarmte
die verwunderte Weißnäherin auf's Reue unter Freudenthränen,
und war die längste Zeit nicht im Stande, nur eine Shlbe heraus-
zubringen.

Nachdem er ihr endlich den erfreulichen Schluß seiner Un-
terredung mit dem kunstsinnigen Bürgermeister mitzutheilen ver-
mocht, nahm er den einen und die treue Gehilfin den andern
Flügel, und so waten sie, in Kurzem von einem Schwar-
me gaffender Straßenjungen umgeben, den Weg zum Rath-
haus an. Die kunstreiche Uhr auf demselben meldete gerade
die Sitzungsstundc, als der wunderliche Zug am Portale ankam.

Die würdigen Väter der Stadt schritte», von allen
Seiten höflich gegrüßt, und mit lächelnder Herablassung
die Zeichen der Ehrfurcht erwiedernd, pünktlicher und ra-
scher als gewöhnlich auS allen Gaffen und Gäßchen zum
Sitze der Weisheit heran. Allein den Eingang hiezu
durch die unter Pfeifen und Schreien sich weidlich herum-
balgende Gassenjugend mußte Jeder mit Tritten und Püf-
fen sauer sich erkämpfen; denn, mit auftichtizem Leidwe-
sen sei's geklagt, diese junge Brut entwickelte so viel als
gar keine Ehrerbietung vor den doch so wichtig aussehen-
den Mitgliedern des hochwohlweiscn Rathes.

Das hoffnungsvolle Brautpaar stand mit klopfenden Her-
zen, die Flügel im Arnie, bereits eine geraume Zeit im Wart-
zimmer, als der Stadtdiener erschien und dem zitternden Schnei-
der mit barscher Stimme befahl, in den Saal einzuweten.

Hier herrschte ein feierliches Helldunkel, und unser
aus dem vom grellsten Sonnenlichte beleuchteten Wart-

zimmer unsicher hereinschreitender Flügelmann war im ersten Au-
genblicke gänzlich geblendet. ES wälzte sich ihm blau und schwarz
vor den Augen herum, und nur dadurch läßt es sich erklären,
wie er das entsetzliche Unglück haben konnte, den ganzen ver- .
sammelten hohen Rath mit dem Rücken zu grüßen, während
er bei seinen tiefen Verbeugungen nach dem hintern Theile des i
Saales hin mit der langen Nase den Boden fast berührte.

Ein kräftiges: „Rechts um kehr'dich, Esel!" und ein nicht j
weniger deutlicher Rippenstoß des enwüsteten Stadtdieners be-
lehrte den Erschrockenen endlich über seinen Jrrthum. Eh' er
jedoch Zeit hatte, sein großes Versehen nach der vordem Seite
hin gutzumachen, erhob sich der Bürgermeister, welcher dem
Rathe bereits Vorwag über die höchstwichtige Angelegenheit er- >
stattet hatte, und forderte den Bittsteller auf, Proben seiner Kunst
hier im Saale abzulegen.

Das war nun eine liebe Noch. Nach vielen vergeblichen Ver-
suchen, die steifen Riesenfittige an den viel kürzeren Leib zu brin-
gen, erklärte der schweißwiefende Flugcandidat, daß er auf dem
ebenen Boden sie weder anschnallen, noch kunstgerecht bewegen könne.

Da ward nach Rathsbeschluß eine große Tonne mitten in j
den Saal gewälzt, und der Schneider darauf gestellt. Der Jung-
fer Annamarie aber holte der Stadtdiener die Bibliothefleiter,
damit sie als Sachverständige ihrem unbehilflichen Bräutigam
bei seiner Verwandlung in einen Vogel beistehen möchte. Die
würdigen Väter der Stadt standen voll gespanntester Erwartung
als Zuschauer um die Tonne herum.

»Jetzt, glaub' ich, sitzen beide fest", wollte die geschäftige
Weisnäherin sagen; allein sie hatte noch nicht das letzte Wort
gesprochen, so lag die Leiter hinten und sie vorne am Boden, >
zugleich stürzten auf jeder Seite ein paar würdige Väter der
Stadt mit großem Gepolter übereinander; denn dessen hatten
sich die hochwohlweisen Herren so wenig als die gute Anna- -

sr»
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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Schneider von Ulm"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

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Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Stauber, Carl
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Störung
Versammlung
Schneider
Bürgermeister
Flügel <Zoologie, Motiv>
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 3.1846, Nr. 70, S. 171
 
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